Nauraka - Volk der Tiefe
Fangur. »Fürst Morangar ist der Fürst des ärmsten Reiches von Nerovia. Vor ihm und seinem Vater mag es einst bessere Herrscher gegeben haben, doch seither wird das Land ausgepresst, während Fürst und Hofschranzen aus dem Vollen leben. Das Volk gab der Festung ihren Namen. Am besten lebt man hier als Soldat.«
»Vor allem, wenn man Steuern unterschlägt«, bemerkte Erenwin.
»Man muss sehen, wo man bleibt«, erwiderte Fangur gelassen. »Ich bin fünfunddreißig Jahre alt und habe eine Familie zu ernähren, wie alle hier. Der jüngste ist gerade so alt wie du und wird bald Vater. Koldar geht schon auf die fünfzig zu und ist bereits Großvater.«
»Sag mal«, mischte Koldar sich ein, »worauf willst du eigentlich hinaus, Meerling?«
Erenwins glasschwarze Augen blitzten kurz auf. »Ich helfe euch, den Fürsten zu entmachten, und dafür bekomme ich meine Kleidung und mein Schwert.«
Fangur fühlte Koldars bohrenden Blick auf sich und wurde unruhig, aber zu seinem eigenen Erstaunen war er nicht empört. »Du schlägst Landesverrat vor? Wir einfachen Leute sollen gegen einen adligen Fürsten rebellieren? Damit wären wir alle verflucht.«
»Nicht, wenn ich es bin, der den Fürsten absetzt«, versetzte Erenwin. »Ich begehe keinen Verrat, da ich kein Untertan bin und ihm in keiner Weise verpflichtet. Wahrscheinlich tue ich dem ganzen Land damit einen Gefallen – falls du ein besserer Herr bist, Fangur.«
»Ich?«, sagte der Hauptmann verblüfft.
»Wer sonst? Zieh alle Männer zusammen, denen du vertraust. Bring mich ins Schloss, vor den Fürsten, und ich erledige den Rest. Dann übernimmst du den Thron und entscheidest, ob es besser oder schlechter wird. Das ist dann nicht mehr meine Angelegenheit.«
Koldars Brauen stießen über der Nasenwurzel zusammen. »Und wer sagt uns, dass du nicht den Thron willst?«
»Warum sollte der mich interessieren?«, sagte Erenwin verächtlich. »Ein unbedeutendes kleines Reich, das in Armut lebt, darauf kann ich verzichten. Ich bin zudem nicht an Macht interessiert. Und ich muss meine Suche fortsetzen.«
»Ich sollte dir die Zunge herausreißen, und dann vergessen wir diese Angelegenheit ganz schnell wieder«, brummte Fangur.
»Welche Skrupel hast du, Hauptmann? Du hintergehst deinen Fürsten doch ohnehin seit Jahren, und es berührt dich nicht im Mindesten, einen alten Mann getötet zu haben – auch wenn er es verdient hatte. Du hast mir einen Gefallen getan, nun tue ich dir einen.«
Fangur war immer noch nicht wirklich aufgebracht. Weder riss er Erenwin die Zunge heraus, noch schnitt er ihm die Kehle durch. Was war nur los mit ihm? Auch Koldar rührte sich nicht. Im Gegenteil, er sah ihn auffordernd an.
Im vergangenen Jahr hatten sie sich ab und zu darüber unterhalten, was wohl geschehen würde, wenn Fürst Morangar unvermutet starb. Dem Alter nach war er zwar noch weit davon entfernt, aber er lebte sehr ausschweifend und war fett und kurzatmig. Da konnte schon einmal das Herz plötzlich versagen. Aber natürlich hatte keiner an Verrat gedacht, es war nur ein Gedankenspiel gewesen.
Erenwins Stimme drang in seine Überlegungen. »Das ist mein Preis: Ich helfe euch, und dafür erlange ich die Freiheit, meine Sachen und ein Pferd.« Er hielt sich die Hand vor den Mund und gähnte. »Überleg es dir, Hauptmann Fangur. Bisher hast du geglaubt, nichts tun zu können, und nun biete ich dir eine Gelegenheit, die du nur einmal bekommst. Du hast die Wahl.« Damit drehte er sich auf die Seite, legte sich hin, und war kurz darauf eingeschlafen.
Fangur und Koldar sahen sich verblüfft und beunruhigt an.
Dann gingen sie zu den anderen Soldaten.
Fangur weckte Erenwin am nächsten Morgen persönlich.
»Oh«, sagte er fast erstaunt. »Ich bin ja noch am Leben.«
»Denkst du, ich will so enden wie Laoren?«, bemerkte der Hauptmann. Er war übermüdet nach einer Nacht voller aufwühlender Gedanken. »Während du selig geschlummert hast, habe ich mich mit meinen Leuten über deinen Vorschlag beraten.«
Erenwin streckte sich und gähnte. »Demnach sieht es gut für mich aus.«
»Für uns alle, wenn du uns nicht zu viel versprochen hast.« Fangur löste die Ketten, und Erenwin sah ihm verdutzt dabei zu. »Ich habe mich entschlossen, dir zu vertrauen. Ich habe keine Ahnung, weshalb – aber vermutlich kann es nicht mehr schlimmer kommen, und ich will nicht auch noch das letzte bisschen Selbstachtung verlieren, das ich besitze. Ab sofort reitest du als mein Soldat. Du wirst dich
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