Nauraka - Volk der Tiefe
besaßen, die sich noch prächtig entwickeln würden, mit glatten Wangen und blitzenden Augen.
»Beeilen wir uns!«, rief der Älteste. »Der große Moment ist gekommen, es geschieht, worauf wir so lange gewartet haben! Ich kann es schon spüren, wie es beginnt!« Gleich darauf waren sie verschwunden.
»Ursprünglich«, erklang eine angenehm tiefe Stimme hinter Erenwin, »hatte ich den See für meine Frau gebaut, doch sie verabscheut das Wasser. Meine Kinder lieben es dafür umso mehr.«
Erenwin ging eilig zurück, doch als er die Tür schließen wollte, sagte sein Gastgeber: »Lasst ein wenig Luft und Sonne herein, es ist recht mild heute. Eine der letzten Gelegenheiten, bevor uns der Winter fest in seinem Griff hält.«
Tatsächlich hatte der Wind ein wenig nachgelassen, und die sinkende Sonne fand ihren Weg ins Innere. Erenwin war es nur recht, frische Luft zu bekommen, denn sein Atem ging schneller, und er war nervös.
»Ich danke Euch für die Einladung«, begann er endlich seine Begrüßung und verneigte sich leicht vor Berenvil.
Das Alter des Mannes war schwer zu schätzen, wohl Ende Vierzig. Er war hochgewachsen und muskulös, gelocktes dunkles Haar fiel auf seine Schultern herab, ein kurzgeschnittener Bart umrahmte sein Gesicht. Er trug schlichte, aber gut gearbeitete Kleidung und keine Waffe. Er musterte Erenwin aus unergründlichen dunklen Augen.
»Ich muss gestehen, mit Euch als Gast hätte ich zuletzt gerechnet«, sagte er. »Willkommen in meinem Heim, Erenwin von den Nauraka.« Sein Blick fiel auf Erenwins nackte Füße. »Zumindest ein Beiname scheint zu Euch zu passen.«
»Ich konnte mich nie dazu überwinden«, versetzte Erenwin und deutete auf Berenvils Stiefel. »Aber ich muss gestehen, auch ich bin überrascht, denn es heißt doch, Ihr lebt als Einsiedler.«
»Ihr meint meine Söhne?« Berenvil lachte herzlich. »Ja, stellt Euch vor, ich habe eine Frau gefunden, die meine Einsamkeit mit mir hier oben teilt, und nicht nur das, sie schenkte mir eine Familie. Noch heute danke ich den Göttern jeden Tag für das Glück und die Gnade, die mir zuteil wurden.«
»Ich bin mit einem Anliegen zu Euch gekommen, ehrenwerter Berenvil«, kam Erenwin, der umständliche Höflichkeitsrituale längst verlernt hatte, zur Sache. »Ich erbitte Euren Rat und, wenn es möglich ist, Eure Hilfe.«
»Selbstverständlich, geehrter Erenwin«, lächelte Berenvil. »Ich werde für Euch tun, was ich kann. Noch heute werden wir uns zusammensetzen, doch lasst mich Euch zuerst meine Frau vorstellen, denn ich kann mir denken, dass sie bereits Kunde von Eurer Ankunft erhalten hat und auf dem Weg hierher ist. Ah, da ist sie schon.«
Zwischen Fenster und Kamin gab es eine kleine Tür, die wohl zu den Privatgemächern führte, denn in diesem Moment trat eine Frau über die Schwelle und kam mit anmutigen, geschmeidigen Schritten herbei.
Erenwin war, als habe ihn ein Blitz getroffen und endgültig in Stein verwandelt, und er stand völlig starr da.
»Lieber Gemahl, wir haben einen Gast, und ich erfahre nichts davon?«, rief die edle Dame vorwurfsvoll. Ein fließendes Gewand umschmeichelte ihre zierliche Figur, Perlenketten zogen sich durch ihr glänzend schwarzes Haar, und ihre Augen waren klar und aufmerksam.
»Darf ich vorstellen«, sagte Berenvil gut gelaunt, »meine Frau Raëlle. Und weißt du, wer unser Gast ist, Liebste?«
Sie blieb stehen und starrte Erenwin an. Dann wich sie entsetzt vor ihm zurück. »Ist er es?«, flüsterte sie. »Er … ist … schrecklich …«
Erenwin wandte sich langsam Berenvil zu. »Raëlle?«
»Ja, das bedeutet Mohnblume. Ein schöner Name, der ihr jedoch kaum gerecht wird.«
»Aber …«, setzte Erenwin von neuem an und wandte sich Raëlle wieder zu. »Dein Name ist Lurdèa …«
Sie sah ihn misstrauisch, voller Abneigung und Furcht an. »Es tut mir leid, ich kenne Euch nicht, mein Herr«, sagte sie mühsam beherrscht. »Ich habe Euch nie zuvor gesehen.«
»Nein, nicht so, sicher nicht, aber ich kann alles erklären«, stotterte Erenwin, der sich immer unwirklicher fühlte. Die Schwarze Perle tobte in ihm, in seinen Ohren rauschte es, und der Schock krampfte immer noch sein Herz zusammen.
Er konnte sich nicht irren, es gab keinen Zweifel. Keine zweite Frau konnte so aussehen wie sie. Er hatte seine Schwester gefunden, nach all den Jahren … aber sie erinnerte sich nicht mehr an ihn!
Alrydis hatte recht gehabt mit ihrer Vermutung, und das Undenkbare war eingetreten. Lurdèa
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