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Nauraka - Volk der Tiefe

Nauraka - Volk der Tiefe

Titel: Nauraka - Volk der Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uschi Zietsch
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er blieb einfach nur grinsend, die Arme vor der Brust verschränkt, stehen. Sie blickte hinein – und entspannte sich etwas. »Ich sehe mich«, sagte sie ratlos. »Und euch beide.«
    Der Fremde geriet immer mehr außer sich. Warum griffen die Wachen nicht ein? Wieso hörte sie sich das überhaupt an? »Lurdèa, bitte, schau mich doch endlich an! Ich bin Erenwin, dein Bruder, wir sind zusammen in der Tiefe aufgewachsen! Wir sind Nauraka!«
    »K-keinesfalls«, stotterte sie. »Ich meide das Wasser mein Leben lang!«
    Das Ungeheuer, das behauptete, ihr Bruder zu sein, stieß einen weiteren verzweifelten Schrei aus. 
    Und dann, bevor Berenvil eingreifen konnte, stürmte es auf Raëlle zu, packte sie, riss sie mit sich durch die offene Tür des Balkons und stürzte sich mit ihr über die Brüstung.

    Raëlle schrie nicht. Sie war viel zu erstaunt, was mit ihr geschah, dass sie plötzlich schwerelos war, und fast neugierig, wie es sein mochte, durch die Luft zu fliegen, wie Sahum, der Riesengreif.
    Doch sie war noch immer in der Umklammerung des steinern wirkenden Wesens gefangen, dessen Gewicht sie nun in die Tiefe riss, und es ging steil abwärts.
    Noch immer schrie sie nicht, weil es viel zu schnell geschah, und dann wurde ihr die Luft aus den Lungen gepresst, als sie in einer gewaltigen Fontäne ins Wasser schlugen und sofort untergingen.
    Erst da ergriff sie Panik. Sie hatte den Sturz überlebt, aber nun würde sie ertrinken, wenn sie nicht schnell wieder an die Oberfläche kam. Das war ihre schlimmste Angst, seit … seit … sie wusste es nicht mehr. Doch sie mied seither das Wasser.
    Raëlle versuchte, sich von dem mörderischen Ungeheuer loszureißen, schlug und trat um sich, doch es hielt sie gnadenlos fest. In einem Schwall Blasen löste sich der letzte Atemzug aus ihr, und ihre Lungen füllten sich mit Wasser, als sie verzweifelt nach Luft rang.
    In Raëlles Ohren rauschte und dröhnte es, und sie wusste, es war vorbei, das Ende war gekommen. Von weiter Ferne hörte sie immer noch diese schreckliche Stimme: »Erinnere dich endlich! Atme! Du kannst es!«
    Wut packte sie in ihren letzten Lebensmomenten, und sie ballte die Fäuste, schlug auf ihren Mörder ein …
    … und da geschah etwas mit ihrem Hals. Er schien aufzureißen, und Wasser strömte herein, und dann … wieder heraus. Etwas klappte auf und zu, das sie Luft schöpfen ließ, und ihr rasender Puls normalisierte sich.
    Kiemen .
    Sie atmete!

    Und mit einem Schlag, im selben Moment des ersten Atemzugs, kehrten ihre Erinnerungen wieder, und sie starrte das monströse Wesen an, erkannte es endlich trotz seinem furchtbaren Äußeren, an seiner Bewegung, seinem Geruch. Alle Sinne erwachten wie aus langem Schlaf.
    »Erenwin?«, flüsterte sie zutiefst entsetzt. »Eri … Bruder … bist du es wirklich?«
    »Ja«, lautete die Antwort, und sie klang wie ein Schluchzen. »Oh Luri …«
    »Eri!«, schrie Lurdèa auf, schlang die Arme um ihren so lange vergessenen Bruder, und ölige Tränen trieben durchs Wasser, umgaben sie wie ein Band, das nie mehr zerrissen werden durfte. »Oh Eri, Eri, verzeih mir, wie konnte ich nur all das vergessen …«
    »Und du verzeih mir, Luri, dass ich so lange brauchte, um dich zu finden … nun endlich kann ich mein Versprechen einlösen, und du gehst nach Hause ...«
    »Wir werden beide nach Hause gehen«, unterbrach sie energisch.
    »Nein«, sagte er zitternd. »Für mich ist es zu spät. Nicht nur, weil Vater mich endgültig verstieß. Sieh mich an, was aus mir geworden ist, seit ich diese verfluchte Schwarze Perle fand! Jene Schwarze Perle aus der Tiefen Stille …«
    »Also hattest du damals doch etwas mitgenommen!«
    »Ja, und Berenvil ist es, der die ganze Zeit schon danach trachtet, und ich habe sie ihm gebracht!«
    »Eri, warum hast du es nie gesagt …«
    » Sie hat es verhindert, Schwester, von dem Moment an, als ich sie in meine Hände nahm. Ich war in ihrer Gewalt, ihrem Fluch erlegen, und nun gibt es für mich keine Rettung mehr. Ich habe furchtbare Dinge getan …«
    »Wir werden Rettung finden«, versprach Lurdèa erschüttert, während ihr Bruder an ihrer Schulter weinte. Seine Tränen waren schwarz, wie alles an ihm. Und trotzdem war er immer noch Eri, ihr großer Bruder, ein Träumer, der das Meer verlassen hatte, um sie zu suchen, jahrelang. » Er ist es also?«, sagte sie dann und deutete nach oben. »Der Alte Feind? Er lebt wirklich?«
    »Ja. Er hat es geplant, von Anfang an. Auch unsere Begegnung. Einfach

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