Nauraka - Volk der Tiefe
Schnauben aus. »Ach – dann sind wir also beide unschuldig?«
»Du ganz sicherlich. Ich nicht, und ich werde dafür bezahlen.«
Erenwin schob den Tisch beiseite, öffnete das Fenster und sah hinaus. Helles abendliches Sonnenlicht strömte herein, aber auch die Kälte des hohen Berges. »Es ist nicht verriegelt«, stellte er fest. »Kein Gitter. Groß genug selbst für mich, um hindurchzukriechen und sich in den Tod zu stürzen. Von diesem Turm aus geht es senkrecht auf die Felsen hinab. Warum verhindert Berenvil das nicht?«
»Das ist typisch für ihn«, sagte Lurdèa müde. »Er gaukelt dir immer eine gewisse Freiheit vor, doch in Wirklichkeit hat er alle Fäden in der Hand. Es gibt keinen unbeobachteten Schritt.«
»Bis auf den Moment, als ich mich mit dir in den See stürzte.«
»Das hat ihn überrascht, aber nun kann er dich besser einschätzen. Er weiß genau, was wir jetzt tun, und er überlässt uns die Entscheidung, ob wir ihm dienen oder lieber sterben.«
Erenwin drehte den monströsen Kopf zu ihr. »Das verstehe ich nicht.«
»Ich denke, er will uns wirklich alle als Familie sehen.« Lurdèa wiegte den Oberkörper leicht vor und zurück. »Er will uns vor Augen führen, dass wir keine andere Wahl haben. Und er hat recht, denn wohin sollten wir noch gehen? Es gibt keinen Ort mehr für uns. Wir sind Ausgestoßene.«
»Du meinst, er will uns weiterhin verführen«, knurrte Erenwin. »Er tut uns schön, um uns zu überzeugen, uns auf seine Seite zu ziehen ...«
»Umso treuer wären wir. Ja. Bei mir hatte er bisher großen Erfolg damit. Und du ... hast du nicht selbst gesagt, du seist ein Monster? Dann tötest du eben in Zukunft in seinem Namen, ohne die Verantwortung dafür tragen zu müssen, wie bisher auch.«
Lurdèa wich zurück, als er fauchend zu ihr herumfuhr. Doch er hatte sich sofort wieder in der Gewalt.
»Meinst du, Einfluss auf deine Kinder nehmen zu können?«, wechselte er das Thema.
»Das, was sie jetzt geworden sind, sind nicht mehr meine Kinder! Ich habe sie nur geboren, als ich Raëlle war, und wenn ich mich jetzt zurückerinnere, hat Berenvil immer nur von seinen Söhnen gesprochen. Bis zu ihrer Häutung hatten sie noch einen Teil von Raëlle, aber den haben sie abgestreift, jetzt sind sie Drachenbrut. Es gibt keine Verbindung mehr, und ich bin nur noch leer und tot.«
Stille breitete sich aus. Erenwin schloss das Fenster, als es zu kalt wurde; sanft gestreutes, für ihn nur noch als Grauschattierungen erkennbares Licht fiel nun durch die dicken Butzenscheiben herein. Er legte Holz im Kamin nach, ging dann zum Tisch und fing an zu essen. Lurdèa rührte sich die ganze Zeit nicht, nur ihr Oberkörper bewegte sich weiterhin leicht vor und zurück.
»Hast du ihn geliebt?«, fragte er nach einer Weile.
»Ich hielt es wohl für Liebe«, antwortete sie leise. »Ich war gern mit ihm zusammen, mein Herz schlug schneller, wenn er mich berührte. Ich wollte ihm so gern glauben.«
»Aber du fühltest, dass etwas falsch war.«
»Ich schob es darauf, dass ich durch Janwe so zerrüttet und misstrauisch war, nur noch an mir zweifelte und mich selbst für meine Schwäche hasste. Berenvil ... gab mir meine Selbstachtung zurück. Und mein Körpergefühl, denn sonst hätte ich ihm doch nicht drei Kinder geboren, nicht wahr?«
Er schnaubte, und ein feiner Sprühregen wirbelte aus seinen geblähten Nüstern. »Glaubst du, was er über die Empfängnisfähigkeit der naurakischen Frauen sagte?«
»Ja. Als er vorhin mit uns redete, hatte er keinen Grund mehr zu lügen. Zumindest ... habe ich mit ihm ... und ich wollte ... ach, darüber will ich nicht mehr reden.« Sie schüttelte energisch den Kopf.
»Wir haben verlernt zu lieben«, sagte er leise und starrte ins Feuer. »Deshalb können wir auch unseren Gefühlen nicht vertrauen und verstehen die Warnungen unseres Herzens nicht. Wir glauben zu empfinden, doch es ist nicht genug. Liebe reicht so viel tiefer, Lurdèa. Sie ... sie erfüllt dich, ist dir Heimat, gibt dir Kraft und Hingabe ... so viel mehr. All das, von dem wir nichts mehr wissen, das uns nicht einmal mehr fehlt. Liebe opfert sich sogar selbst für einen anderen.«
»So wie Turéor sich für uns?«
»Ja.«
Lurdèa stand auf, ging zu ihm und legte die Hand an seinen Arm. »Also hast du nie aufgehört, danach zu suchen«, wisperte sie. »Du hast dabei viel gelernt. Aber ... hast du die Liebe auch gefunden ... für dich?« Sie stieß einen leisen Laut aus, als sie sah, wie sich
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