Nauraka - Volk der Tiefe
eine schwarze Träne aus seinem Auge löste und über seine schuppige, verhornte Wange rollte.
»Da war ... eine Ylwanin, eine … Verwandte von uns«, erzählte er stockend. »Alrydis. Sie ist die Tochter des Friedenskönigs von Ardig Hall. Ich musste sie verlassen. Aber ich kann sie nicht vergessen ...«
Lurdèa sagte nichts mehr. Sie lehnte sich an ihn, den Arm um seinen geschlungen. Einige Zeit sahen sie still ins Feuer. Doch irgendwann fragte sie: »Wie soll es weitergehen, Eri?«
»Berenvil hat uns die Wahl gelassen, wie du gesagt hast«, sagte er nunmehr ruhig und gefasst. »Nun treffen wir die Entscheidung. Nach all dem, was uns widerfahren ist, was wir anderen angetan haben, was wir in Zukunft gezwungen sein werden, zu tun ... wollen wir es beenden oder kämpfen?«
»Beenden – damit meinst du, wir stürzen uns aus dem Fenster?«
»Wir haben beide keine Chance, das zu überleben. Ich weiß nicht, ob Berenvil es im letzten Moment verhindern wird, doch darauf müssten wir es eben ankommen lassen.«
»Bei der zweiten Möglichkeit ... Unterwerfung statt Kampf, sagst du?«
»Wir unterwerfen uns nicht«, knurrte er. »Wir machen es genauso wie er: warten auf den Tag, der kommen wird.«
»Aber darauf wird er gefasst sein«, wandte sie ein.
» Darauf nicht.« Er verzog die Mundwinkel zu einem bizarren Drachengrinsen. »Ich habe nämlich schon einen Plan, und der Tag ist bereits gekommen.«
Staunen trat auf ihr Gesicht. »Oh ...«
Er wandte sich ihr zu, legte vorsichtig die Krallenhand an ihre schmale Schulter. »Was ich von dir wissen will, Schwester, ist eine endgültige Entscheidung. Bist du in der Lage, mit deiner Vergangenheit zu leben, sie als einen Teil von dir zu akzeptieren und dich eines Tages vielleicht sogar damit zu versöhnen? Und überlege dir deine Antwort gut, denn ich frage dich nicht, ob du es willst – ich frage dich, ob du es kannst .«
Die See wogte in ihren türkisfarbenen Augen, und ganz weit entfernt entzündete sich ein kleiner goldener Funke, als sie seinen Blick erwiderte.
Plötzlich fiel eine schwere Last von ihr ab, als sie erkannte, dass er recht hatte. Wenn sie nicht damit leben konnte, war ihr nur noch der Sturz aus dem Fenster möglich. Vergessen wollte sie nie wieder. Und aufgeben wollte sie auch nicht. Sie wollte Berenvil aufhalten, sie wollte Janwe seiner gerechten Strafe zuführen, und sie wollte zurück zu ihrem Volk. Sie wollte neu anfangen, ganz von vorn, nur selbstbestimmt, und lernen wie ihr Bruder. Erenwin hatte sie gefunden und ihr die Erinnerung zurückgegeben. Das alles musste doch für etwas gut sein. Wenn sie jetzt starb, überließ sie die Nauraka ihrem Schicksal und ebnete Berenvil den Weg.
Das war, was sie alles wollte.
»Ich will und ich kann «, sagte sie mit fester Stimme, ohne zu zögern oder zu zweifeln. »Niemals werde ich aufgeben, denn sonst hat die Finsternis gewonnen. Onkel Turéor hat es uns vorgemacht, und sein Tod darf nicht umsonst gewesen sein.«
»Ja«, entgegnete Erenwin, und für einen kurzen Augenblick glaubte sie, etwas in seinen glasschwarzen Augen aufblitzen zu sehen, ein kurzes blaues und grünes Leuchten. »Ich habe auch so entschieden. Schon vor langer Zeit, als unser Vater mich verstieß und die Schwarze Perle in mir wütete und mich bereits veränderte. Als die Dunkelheit meiner Seele äußerlich schon sichtbar wurde. Damals entschied ich, meine Suche fortzusetzen, nach dir und nach dem, was unser Volk verloren hat. Gewiss mag die Perle ein großer Antrieb gewesen sein, der mich letztendlich hierherführte, aufgrund der Verbindung zu Berenvil. Doch auch der Drache muss Frieden finden, und ich glaube, ich bin der Einzige, der ihn bringen kann. Weil ich fast so bin wie Berenvil, aber nur beinahe, denn in meinen Adern kreist kein Drachenblut ...«
»Und weil wir zurückmüssen, um es zu beenden.« Lurdèa atmete tief ein und fühlte sich von neuer Kraft durchdrungen. Sie würde sich nicht brechen lassen, niemals. »Allerdings sollten wir uns beeilen, denn Berenvils Kinder sind bereits auf der Reise zum Meer.«
»Das stellt kein Problem dar.«
»Nein?«
»Iss erst was, dann erkläre ich es dir.«
»Aber ich habe keinen ...«
»Iss, Schwester, denn du brauchst alle deine Kräfte!«
VIERTER TEIL
Heimkehr
19.
Der letzte Kampf
Die Sonne war beinahe untergegangen. Der Himmel schien im letzten Aufflackern gegen die heraufziehende Nacht in Flammen zu stehen. Hoch oben kreiste Sahum und schickte seinen letzten Gruß
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