Nauraka - Volk der Tiefe
für den Tag über das Gebirge. Im Tal unten entzündeten sich die ersten Lichter, und das Tagwerk wurde beendet. Das Gesinde in Dorluvan führte die letzten Arbeiten durch und ging zur Ruhe. Es wurde still.
Berenvil wanderte in seiner Halle umher, die Arme auf dem Rücken verschränkt, und dachte nach. Seine Söhne waren auf dem schnellsten Wege unterwegs nach Darystis, und Janwe war von Karund aus losgezogen.
Der junge Fürst war in den letzten Jahren immer unberechenbarer und schwieriger zu lenken geworden. Er hatte angefangen zu trinken und frönte häufiger seinen grausamen Neigungen. Lurdèas Flucht hatte ihn doch schwerer getroffen als er angenommen hatte, und nachdem Berenvil ihn dazu gezwungen hatte, die Vorbereitungen zum Zug gegen Darystis abzubrechen, hatte sich etwas zwischen ihnen verändert. Aber es wäre verfrüht gewesen, den Hochfürsten anzugreifen, Ragdurs Soldaten waren in der Überzahl, und er selbst ein erfahrener Stratege. Nachdem er Erenwins Warnung erhalten hatte, war er vorbereitet, und Janwe hatte fast zweihundert Mann im Kampf gegen Turéor verloren, die ihm nun fehlten.
Der alte Kämpe hatte Berenvil eine empfindliche Niederlage beigebracht, noch dazu, da er sich vorzeitig aus dem Leben gestohlen hatte. Berenvil hatte seinen Zorn einigermaßen ausgetobt, nachdem der Tod des letzten königlichen Nachkommens den Seedrachen erweckt hatte, und er ihn daran hinderte, Karund zu vernichten – doch damit war es nicht getan. Berenvil nagte noch heute daran, dass Turéor ihm entkommen war.
Er ließ sich davon jedoch nicht zu sehr beeinflussen, sondern konzentrierte sich auf die weitere Entwicklung und gab Janwe neue Ziele vor, die er erobern musste, um vor allem mehr Soldaten zu bekommen. Trotzdem schien der junge Fürst damit nicht ausgelastet und gelangweilt, weil er sich immer mehr gehen ließ und aufsässiger wurde.
Immerhin war er nun besser gelaunt, nachdem der Angriff auf Darystis kurz bevorstand – auch wenn er sich bitter darüber beklagt hatte, dass Berenvil seine drei Söhne zur Unterstützung schickte. Deshalb hatten sie auch einen eindeutigen Befehl erhalten; sobald Darystis in ihrer Hand war, musste Janwe sterben. Auf ihn war kein Verlass mehr.
Ragdur bekam keine Kriegserklärung, sondern würde schlicht vor vollendete Tatsachen gestellt. Hier ging es nicht einfach nur um Eroberung, sondern vor allem um einen Vernichtungsfeldzug.
Den Angriff auf Ardig Hall würde Berenvil zu einem ganz anderen Zeitpunkt durchführen. Er hatte abgewartet, bis das Reich in voller Blüte stand, und er sich nur ins gemachte Nest setzen musste. König Rowarn hatte viele mächtige Verbündete, aber Berenvil würde nicht mit Soldaten anrücken, das war ein reines Ablenkungsmanöver. Er brauchte nur das Drachenauge und zusätzlich ein, zwei Dinge, dann könnte er das Schloss im Handstreich übernehmen. Er wollte Ardig Hall nicht vernichten, sondern besetzen, als neuer König auf dem Thron. Auch die Vorankündigung seines Angriffs war ein Ablenkungsmanöver. Rowarn war nun damit beschäftigt herauszufinden, wo der Alte Feind seinen Sitz hatte, während dieser ihn genau beobachtete, um seine Schwachpunkte zu ermitteln. Berenvil würde den König an mehreren Fronten binden, bis der Weg nach Ardig Hall frei war.
Das Portal öffnete sich, und Lurdèas Leibdienerin kam herein. »Gebieter, meine Herrin möchte Euch sprechen.«
»Raëlle? Was will sie von mir?«
»Ich sollte Euch nur mitteilen, dass sie um eine Audienz bittet.«
Er war erstaunt, dass sie ihn sprechen wollte, denn er hatte erwartet, dass sie ihm von nun an nur noch mit schweigendem Hass begegnen würde. Doch dann rief er sich in Erinnerung, dass sie eine Kämpferin war und alles daransetzen würde, ihn umzustimmen. Er war gespannt darauf, wie sie es anstellen würde, und verspürte schon in Vorfreude ein leises Kribbeln und aufsteigende Wärme zwischen seinen Lenden.
Er gab ihr einen Wink. »Also schön, bring sie zu mir.«
Als Lurdèa bald darauf von zwei Wachen begleitet hereinkam, empfand Berenvil unwillkürlich Bewunderung. Egal, was man dieser Frau antat, wie tief man sie auch verletzte, sie überstand es. Ihre filigrane Gestalt sah so zerbrechlich aus, doch sie besaß mehr Willen und Kraft als alle Kriegsherren, mit denen er sich auseinandergesetzt hatte. Lurdèa verkörperte den Geist und die Schönheit der Nauraka, wie sie einst gewesen waren. Deswegen war sie von so großer Bedeutung für ihn. Sie sollte die Stammmutter des
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