Nazigold
kurz bevor er
Mittenwald verließ. Er war damals schon einige Jahre mit Luise verheiratet,
trotzdem musste er Wilma zum Abschied noch einmal sehen. Diese letzte Begegnung
aber war eisig. Sie beachtete ihn kaum, zischte ihm nur von der Seite zu: »Geh
zurück zu deiner Frau.«
Gropper wagt sich kaum vorzustellen, wie sie reagieren wird, sollte
er sie jetzt hier tatsächlich wiedersehen.
Als er von der Bahnhofstraße rechts in die Dammkarstraße einbiegt,
sieht er schon von Weitem das Rathaus. Früher war es das »Haus der
Nationalsozialisten« mit der Hakenkreuzfahne. Jetzt hat sich in einem Flügel
des Gebäudes das »Military Government Detachment Mittenwald«, die
Standortkommandantur, niedergelassen, und auf dem Dach weht das Sternenbanner.
Vor dem Eingang steht die »Constabulary« mit ihren olivfarbenen, glänzend
lackierten Helmen mit den doppelten weißen Rundstreifen und dem großen goldenen C
darauf und mit akkuraten Bügelfalten in den Uniformhosen, die sich über ihre
halbhohen Schnürstiefel bauschen. Sie sind die »Troopers«, die Sheriffs.
Gropper betritt den anderen Gebäudeflügel, in dem sich das
Fremdenverkehrsamt mit der Touristeninformation befand und wo er Wilma zum
letzten Mal sah. In dem großen Vorraum weist ein Pfeil nach rechts zum
Bürgermeisteramt. Das befindet sich also immer noch hier. Der andere Pfeil
zeigt nach links zur Einwohnermeldestelle. Kein Verkehrsamt, keine Wilma. Und
das Einwohnermeldeamt ist heute, am Samstag, geschlossen. Erst am Montag kann
er dort nach ihr fragen.
Ich muss sie finden, ich muss sie finden, denkt er. Ich muss zur
Metzgerei ihres Vaters im »Haus Adler« neben der Kirche. Er marschiert also in
Richtung Metzgerei Gschwandtner.
Auf dem Weg dorthin kommt er auf der Bahnhofstraße an kleinen
Kramerläden vorbei, in denen früher Kurzwaren, Hosenträger, Petroleum,
Schuhwichse, Essig und Öl verkauft wurden. Jetzt stehen in den Schaufenstern
Coca-Cola-Flaschen, Milchpulver, Nescafé-Dosen, Corned-Beef- und Maisbüchsen.
Auf dem Bürgersteig drängen sich zermürbte Männer in Lumpen, die
vollgepackte Leiterwägelchen hinter sich herziehen, und abgemagerte Frauen mit
kleinen Kindern auf den Armen. Sie reden in fremden Sprachen und fremden
Dialekten. Er weicht dem Menschenknäuel aus, überquert die Straße und wäre
dabei beinahe in frische, noch flüssige Kuhfladen getreten.
Ihn überkommt ein beruhigendes und anheimelndes Gefühl: Immerhin
gibt es noch Kühe.
Ein mit Heu hoch beladener Wagen rappelt vorbei, gezogen von zwei
Pferden. Er atmet den würzigen, ihm so vertrauten Duft des Heus ein. Ein wenig
sticht er in der Nase, sodass er fast niesen muss. Durch das Rattern verliert
der Wagen immer wieder große Büschel, die neben die Kuhfladen fallen. Das
Futter gesellt sich zum Mist.
Vor dem Gebäude der ehemaligen Raiffeisenbank, in das nun die Bar
»Broadway« mit Fotos von Pin-up-Girls lockt, steht immer noch das lange
Holzpodest. Hier stellten früher die Bauern und auch er mit seinem Vater die
großen, silbern glänzenden Milchkannen für das Molkereiauto ab. Jetzt hocken
bewaffnete GI s auf dem Abstellbrett, schauen auf
die vorüberziehenden Menschen und die alten Autos und wundern sich, dass diese
Klapperkisten überhaupt noch fahren. Gropper hingegen wundert sich über die
vielen neuen, teuren Wagen, die durch Mittenwald rollen: Porsche, BMW , Mercedes. Auch amerikanische Luxusschlitten: Buick
und Chrysler, chauffiert von vornehmen Herren und Damen, die ihre Gesichter
hinter großen Sonnenbrillen verbergen. Sonderbar, grübelt er, so kurz nach dem
Krieg dieser Luxus in all dem Elend.
Woher kommt dieser plötzliche Reichtum?
Auf dem letzten Stück der Bahnhofstraße kommt der Lingl Mucki auf
ihn zu. Er erkennt ihn sofort wieder. Auch mit ihm ist er zur Schule gegangen,
und als Gendarm musste er ihn wegen Holzdiebstahls festnehmen, das gab ein Jahr
Gefängnis für Mucki.
Keine Handreichung von beiden, nur eine spöttische Feststellung von
Mucki: »Na, auch wieder im Lande?«, wobei er seine alte Filzkappe
herausfordernd nach hinten schiebt. »Wieder eifrig im Dienst, Herr Gendarm?«
Gropper hat keine Lust, mit ihm zu reden, und will weitergehen. Doch
Mucki stellt sich ihm in den Weg. »Gut gelebt in der Schweiz?«
»Was dagegen?«
»Ja.«
Wieder will er weiter, doch Mucki sagt provozierend: »Wir haben hier
den Kopf hinhalten müssen, aber du hast gekniffen, du Drückeberger.«
Gropper schiebt ihn beiseite und geht schnell davon. Kein
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