Neandermord
Lkw.
Ich wandte mich sicherheitshalber ab. Man wusste ja nie, wer einen erkannte. Als der Lastwagen auf unserer Höhe war, rammte der Fahrer den nächsten Gang ins Getriebe und gab Gas. Eine Staubwolke folgte ihm. Sie stammte von dem Erdreich, das er geladen hatte. Wahrscheinlich kam er von einer Baustelle in der Nähe, wo wieder mal eine neue Eigenheimsiedlung entstand. Diese Schuhschachtelhäuser schossen überall im Bergischen Land aus dem Boden. Bald würde es mit der Idylle endgültig vorbei sein. Da halfen auch die denkmalgeschützten Oasen wie Gruiten nichts. Die Besiedelung schnitt ihnen die Luft ab.
»Ich habe mir die ganze Zeit überlegt«, rief ich gegen den Lärm an, »auf welchem Weg der Mörder geflohen ist. Vielleicht sollten wir uns das mal ansehen.« Auch wenn es nicht ratsam war, sich dem Neandertal weiter zu nähern. Sicher hing dort überall mein Steckbrief an den Bäumen.
»Hast du mittlerweile eine Karte besorgt?«, fragte ich.
Jutta schüttelte den Kopf. »Aber wenn wir eine einigermaßen ruhige Stelle finden, wo es Handyverbindung gibt, könnte ich uns eine besorgen.«
Was sollte das denn heißen?
»Also gut«, sagte ich. »Und vorher fahren wir mal hier die Orte ab. Vielleicht sehen wir doch etwas Auffälliges. Zu irgendwas müssen diese Notizen bei Krüger doch gut gewesen sein.«
Jutta düste mit mir auf dem Sozius über die Landstraße und klapperte die Weiler ab. Ich hielt die Augen offen.
Wohnhäuser. Freies Land. Die Zufahrt zu einem Restaurant. Eine Baustelle.
»Nicht so schnell«, rief ich nach vorn, und Jutta bremste ab.
Ich scannte das riesige Bauschild.
»Hier entsteht ein Wellness-Hotel«, las ich. Darunter der Name der Baufirma. Und der einer Hotelgruppe, in deren Auftrag das Ding hochgezogen wurde.
Dahinter war von Wellness noch nichts zu sehen. Die Bagger hatten eine Schneise in einen Grashügel gefressen. Die riesige Wunde in der Landschaft leuchtete ockerfarben. Weitere Baumaschinen waren dabei, auszuschachten. Am Rand erhoben sich weiße Klötze: Baucontainer. Daneben ein paar Arbeiter neben aufgestapeltem Baumaterial: Rohre, Stahlgitter, Leitungen.
Jutta gab Gas und preschte weiter, bis wir an einem Wäldchen ankamen. Ein breit ausgefahrener Wirtschaftsweg mit tiefen, steinhart getrockneten Fahrspuren führte an gefällten und rot markierten Baumstämmen vorbei und verlor sich zwischen Büschen und Farn im Wald.
Jutta lenkte die Maschine langsam in den Weg hinein. Wir schreckten ein paar Schmetterlinge auf. Als sie das Motorrad abstellte, stob irgendwo ein Vogel laut kreischend davon.
Ich setzte den Helm ab. Es war still - bis auf den Lärm von dem Hotelneubau, der in der Ferne rumorte.
»Optimal. Machen wir es uns auf den Baumstämmen bequem«, sagte Jutta.
Ich stieg über die Fahrspuren und setzte mich. Ein nettes Plätzchen. Das Blätterdach spendete Schatten. Jutta machte sich an der Motorradbox zu schaffen. Hatten wir eigentlich etwas zu trinken mitgenommen? Und ein paar Brote? Es war die ideale Zeit für ein zweites Frühstück.
Aber sie holte nichts dergleichen hervor. Stattdessen hatte sie eine schmale schwarze Tasche in der Hand. Sie setzte sich neben mich und öffnete sie. Zum Vorschein kam ein kleines Notebook.
»Wozu braucht man heute noch Landkarten?«, sagte sie. »Die Elektronik ersetzt alles.«
»Du hast da drin Landkarten gespeichert?«
»Nicht ich, du Doofi. Das Internet.« Sie klappte den Laptop auf, holte aus der Tasche etwas Flaches und schob es seitlich in das Gerät. »Sag bloß, du hast noch nie was von einer UMTS-Karte gehört?«
Doch, hatte ich. Internet für unterwegs. So was hatte ich mir nur nie leisten wollen. Oder vielmehr: leisten können.
Plötzlich fiel mir etwas ein. »Als wir gestern Abend darüber gesprochen haben, welche Orte Krüger auf den Zettel geschrieben hat, hast du sie mir aber nicht auf dem Computer gezeigt. Hast du den heute erst gekauft, oder was?«
Sie warf mir einen Blick zu, mit dem eine Lehrerin den dümmsten Schüler der Schule bedachte. »Auf dem Hof gab es keinen Handyempfang«, sagte sie und tippte etwas auf der Tastatur, ohne den Blick vom Monitor zu nehmen. »Das hätte keinen Sinn gehabt.«
Es dauerte ein paar Sekunden, dann hatte Jutta die Seite geladen, die uns eine Karte von der Gegend zeigte. »Das ist eigentlich ein Internet-Routenplaner«, sagte sie, »aber für unsere Zwecke bestens geeignet. Wir können uns auch über Google Earth die Gegend von oben ansehen. Ich hoffe, du weißt,
Weitere Kostenlose Bücher