Nebel über dem Fluss
unserer Abteilung, einen Mann fürs Grobe. Divine zum Beispiel. Er könnte dich fahren.«
Mark Divine war wenig begeistert darüber, eine gottverdammte Tusse herumchauffieren zu müssen. Na ja, wenigstens bekam er einen anständigen Wagen, mit dem er auf der Schnellspur mühelos über hundertsechzig fahren konnte.
»Divine«, sagte Helen Siddons. Sie trug ein dunkles Kostüm mit mittellangem Rock, das Haar streng nach hinten genommen. Divine fand, sie hätte gut in das Video gepasst, das er sich gestern Abend ausgeliehen hatte: ›Death Daughters From Hell‹. Er konnte sie sich prima als peitschenschwingende Domina vorstellen.
»Ja, Madam.« Mit spöttischer Miene stand Divine stramm und flirtete sie dabei mit Blicken an. Man konnte nie wissen, wenn sie was herausbekamen, würde sie vielleicht auf der Rückfahrt ein bisschen entspannter sein.
»Eine freche Bemerkung von Ihnen, Divine, und Sie können Ihre abgeschnittenen Eier zum Trocknen aufhängen und beim nächsten Dezernatsfest versteigern. Ist das klar?«
Lynn hatte sämtliche Unterlagen auf ihrem Schreibtisch gesiebt, am schwarzen Brett des Dienstraums nachgesehen, im Dienstbuch die eingegangenen Nachrichten überprüft. Im Lauf des Vormittags sprach sie mit den Beamten, die an der Wache Schicht gehabt hatten, rief die Zentrale an und bat, alle eingegangenen Anrufe durchzusehen. Am Ende schien es unumstößlich – in den letzten sechsunddreißig Stunden war keine persönliche Nachricht für sie hinterlassen worden. Was immer auch der Grund sein mochte, Michael hatte gelogen.
»Probleme?« Auf dem Weg in sein Büro blieb Resnick vor ihrem Schreibtisch stehen. Aus einer prallvollen Papiertüte aus dem Sandwich-Shop tropfte es sachte in seine Hand.
Lynn schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht.«
»Sorgen Sie sich um Ihren Vater?«
»Ja, irgendwie schon.«
»Haben Sie inzwischen gehört, wann er operiert wird?«
»Noch nicht, nein.«
Resnick nickte, was konnte er schon sagen? Er hatteversprochen, sich am Nachmittag mit einem Fortschrittsbericht bei den Phelans zu melden, nur gab es da leider nichts zu melden. Der Mann, der die Erpresserbänder geschickt hatte, hatte sie in der Hand. Alle anderen Spuren, soweit es welche gegeben hatte, waren längst kalt geworden. Hinter seinem Schreibtisch sitzend, öffnete er die Tüte, fing ein Rinnsal aus Öl und Mayonnaise mit dem Finger ab und schob ihn in den Mund. Nur ein paar Tropfen fielen auf den Bericht des Innenministeriums über private Sicherheitsdienste. Wie lange war es her, dass er das letzte Mal mit Dana gesprochen hatte? Er sollte sie anrufen, sich vergewissern, dass es ihr gut ging. Wenn sie vorschlug, ihn auf einen Drink zu treffen – warum nicht? Aber die Nummer steckte irgendwo in seinem Hirn fest wie ein Stück hastig gekauten Brots in seiner Kehle.
Lynn verbrachte den Nachmittag mit den Gelben Seiten und diversen anderen Branchenverzeichnissen. Bei ihrem elften Anruf sagte eine Frau am Telefon: »Mr Best? Er ist häufig unterwegs, aber wenn Sie sich einen Moment gedulden, sehe ich nach, ob er zu erreichen ist.«
»Entschuldigen Sie«, sagte Lynn schnell. »Aber ist das Mr Michael Best?«
»Ganz recht, ja. Worum handelt es sich denn? Vielleicht kann Ihnen ein anderer Mitarbeiter weiterhelfen, wenn er nicht hier ist.«
»Nein, lassen Sie nur«, entgegnete Lynn. »Machen Sie sich keine Mühe. Ich versuche es ein andermal.«
An diesem Abend lehnte sie alle Aufforderungen, noch ein Bier trinken zu gehen, ab und machte ziemlich pünktlich Schluss. Sie war aufgeregt, als sie sich ihrer Wohnung näherte. Aber es saß niemand auf der Treppe und las Zeitung, kein Brief war unter ihrer Tür hindurchgeschoben worden. Immer wieder ging sie zum Fenster und schaute inder Erwartung, ihn zu sehen, in den Hof hinunter. Gegen Viertel nach neun fuhr sie im Sessel hoch, nachdem sie eingenickt war. Um zehn war sie im Bett und schlief weiter, erstaunlich unbeschwert.
44
Als wäre es nicht schon ein Kreuz, schwarz geboren zu sein, hatten ihre Eltern ihr auch noch den Namen Sharon geben müssen, der dieser Tage gern als Schimpfwort verwendet wurde. »Von der lass mal lieber die Finger, das ist eine richtige kleine Sharon.« Abgesehen von den endlosen Anzüglichkeiten und Sticheleien, mit denen sie aufgewachsen war, dem offenen Rassismus, den unverfrorenen Beschimpfungen – »Schwarze Schlampe! Schwarzes Luder! Schwarze Sau!« – hatte sie es sich die letzten fünf Jahre gefallen lassen müssen,
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