Nebel über dem Fluss
bekommen.«
»Ich habe sie bei Ihrer Arbeitsstelle hinterlassen.«
»Sie wissen doch gar nicht, wo ich arbeite.«
»Ich habe die Personalabteilung angerufen.«
»Und die haben es Ihnen gesagt?«
»Ich habe ihnen erzählt, ich wäre Ihr Cousin aus Neuseeland«, gestand er leicht verlegen.
»Und das hat Ihnen jemand geglaubt?«
Er lachte, voller Selbstironie. »Ich konnte immer schon gut Dialekte nachahmen. Seit meiner Kindheit.«
Lynn nickte, ging eine Stufe höher, dann noch eine. »Und wo war das? Wo haben Sie Ihre Kindheit verbracht?«
»Was meinen Sie?«, fragte er. »Ist es zu spät, um noch etwas essen zu gehen?«
Er führte sie ins ›San Pietro‹. Rote Tischdecken, Kerzen, Fischernetze an den Wänden. Italienische Schnulzen, häufig von Möwengekreisch oder einer Mandoline begleitet.
»Ich kenne den Laden nicht«, sagte Michael, als er ihr einen Stuhl herauszog. »Aber ich dachte, wir könnten ihn mal ausprobieren.«
Der Kellner kam mit der Weinkarte und zwei Speisekarten.
»Rot oder weiß?«, fragte Michael.
»Für mich nicht, ich habe schon genug getrunken.«
»Wirklich nicht? Sie …«
»Wirklich nicht, Michael.«
Er bestellte eine kleine Karaffe Hauswein für sich und eine große Flasche Mineralwasser für sie beide. Als Vorspeise nahm er Schinken und Melone, Lynn ein Caprese. Erst als sie schon beim Hauptgericht angelangt waren – Fusilli mit Gorgonzola und Sahnesoße, Wiener Schnitzel mit Spinat und Schwenkkartoffeln –, erkundigte sich Michael, wie ihr Tag gewesen sei.
»Es hätte mich wahrscheinlich gar nicht wundern dürfen, dass Sie so spät dran waren, bei dieser scheußlichen Geschichte. Das muss Sie doch alle wahnsinnig machen.«
Lynn legte ihre Gabel auf den Tellerrand. »Was für eine Geschichte?«
»Na, diese arme Frau, nach der alle suchen.«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich damit zu tun habe?«
»Na ja, ich dachte einfach, dass die ganze Polizei Tag und Nacht auf den Beinen ist, um eine Spur von ihr zu finden.«
»Nein, ich habe mit dem Fall nichts zu tun, jedenfalls nicht direkt.«
»Aber Sie wissen doch bestimmt alles darüber. Ich meine, was da abgeht.«
Sie nahm ihre Gabel wieder zur Hand. Das Kalb war zart, mild im Geschmack, die Panade nicht zu knusprig.
»Die Sache mit dem Lösegeld, das nie abgeholt wurde, und das ganze Drumherum, das ist doch alles sehr sonderbar. Ich glaube, ich habe irgendwo gelesen, dass der Einsatz, um dem Kerl eine Falle zu stellen, mehrere tausend Pfund gekostet hat.«
»Sie wissen offenbar genauso viel über die Sache wie ich.«
»Das, was man eben so in der Zeitung liest.«
»Ich dachte«, sagte Lynn, »das vergessen Sie immer gleich nach der Lektüre.«
Michael antwortete mit einem Lächeln und winkte dem Kellner, um sich noch eine Karaffe Wein zu bestellen.
»Sie möchten wirklich nichts?«
»Wirklich nicht.«
Danach drehte sich das Gespräch um anderes, er erkundigte sich nach dem Schaden an ihrem Wagen, nach dem Befinden ihres Vaters, erzählte von seinen Plänen, sich noch einmal selbständig zu machen, sobald es mit der Wirtschaft wieder aufwärtsging. Versand im Großen, das schwebte ihm vor. Bloß nicht mehr diese ständigen Touren über die Dörfer, bei denen man Gas gab und Gas gab und doch nicht vorankam. Er lachte und schaute sie an, um zu sehen, ob sie seinen Witz verstanden hatte.
Sie standen im Hof in der beißenden Kälte; Lynn den Schal doppelt um den Hals gewickelt, Michael mit den Händen tief in den Taschen. Und jetzt …
»Ganz ehrlich«, sagte Lynn, »ich glaube, mir ist das im Moment ein bisschen zu viel.«
»Was denn?«
»Na ja, was Sie sich vielleicht vorstellen.«
Er legte ihr die Hand auf den Arm. »Was gibt’s an Freundschaft auszusetzen?«
»Nichts. Nur ist das nicht alles, was Sie wollen.«
Er stand ihr nahe genug, um sie zu küssen, hätte kaum den Kopf zu neigen brauchen. Er war nicht besonders groß, vielleicht fünf, sechs Zentimeter größer als sie. »Bin ich so leicht zu durchschauen?« Er lächelte.
Wenn er lächelte, dachte Lynn, war es jedes Mal, als erwachte etwas in ihm zum Leben.
»Und bekomme ich nun keinen Kuss? Nicht mal ein Küsschen auf die Wange?«
»Nein«, antwortete Lynn. »Diesmal nicht.«
Als sie vom Außengang hinunterblickte, stand er immernoch reglos da und schaute zu ihr hinauf. Ehe sie es sich anders überlegen konnte, ging sie hinein und sperrte die Tür hinter sich ab.
Erst da setzte sich Michael in Bewegung. Leise vor sich hin
Weitere Kostenlose Bücher