Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nebel über dem Fluss

Nebel über dem Fluss

Titel: Nebel über dem Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
verkündete Divine in einer Lautstärke, die den allgemeinen Lärm übertönte, »war sie schon zwei Stunden nach der Entführung tot.«
    Lynn verkniff es sich zu sagen, aber dich fragt keiner, mein Lieber.
    »Und was hat’s dann mit der Lösegeldforderung auf sich?«, fragte Kevin Naylor.
    »Alles Blödsinn, ist doch klar. Irgend so ein Oberschlauer, der uns vorführen wollte. Wär ja nicht das erste Mal, das weißt du selbst.«
    »Jetzt hör aber auf, Mark.« Lynn brachte es nicht fertig, einfach dazusitzen und den Mund zu halten. »Ihre Stimme war auf dem Band.«
    »Na und? Das kann er doch vorher aus ihr rausgepresst haben.«
    »In zwei Stunden?«
    Divine verdrehte die Augen zur qualmverhangenen Decke. Warum mussten manche Frauen immer alles so wörtlichnehmen und sich an jedem Wort festbeißen, das man sagte? »Okay, vielleicht hat’s ein bisschen länger gedauert. Vielleicht vier oder sechs Stunden, was spielt das schon für eine Rolle?«
    »Für Nancy Phelan oder für uns?«
    Divine leerte sein Glas und schob es über den Tresen zu Kevin Naylor, der mit der nächsten Runde an der Reihe war. »Wir sollten nach einer Leiche suchen, anstatt uns undercover draußen in den Büschen rumzudrücken.«
    »Das hast du aber schon mal anders gesehen«, erinnerte Naylor ihn. »Mit deinem dicken Frühaufsteher-Special auf dem Teller.«
    »Du hast gut reden. Ihr hättet den guten Kev mal mit dieser Gloria sehen sollen, wie er ihr seine lange Zunge in den Rachen geschoben hat.«
    O Gott, dachte Lynn, nicht schon wieder. »Ich muss los«, sagte sie und stand auf.
    »Warte. Ich hol nur schnell die Getränke. Was willst du haben, kleines oder großes?«
    Lynn dachte an das, was sie zu Hause erwartete – eine halbe tiefgefrorene Pizza, ein Haufen Bügelwäsche, der Anruf ihrer Mutter. »Na gut.« Sie setzte sich wieder. »Aber nur ein kleines.«
     
    Es hatte leicht zu regnen angefangen, aber Lynn ließ ihren Schirm in der Tasche. Für später waren fallende Temperaturen und überfrierende Nässe angesagt. In der vergangenen Nacht war auf der Ringstraße draußen bei Retford ein Fiesta auf Blitzeis ins Schleudern geraten und mit einem schwer beladenen Lastwagen zusammengestoßen. Fast eine ganze Familie, Mutter, Vater und zwei kleine Jungen, war praktisch ausgelöscht worden. Nur ein Kleinkind von sechzehn Monaten hatte überlebt. Sie dachte, welches Glück sie selbst gehabt hatte, dass der Wagen, dem sie so nahe gekommenwar, als sie von ihrer Fahrspur abgekommen war, sie nicht einmal gestreift hatte.
    Als sie durch den Torbogen über den Hof ging, lagen die Schlüssel schon in ihrer Hand.
    Auf halbem Weg zögerte sie, schaute sich um. Von Vorhängen oder Stores abgeschirmt, fiel hier und dort Licht aus den Fenstern rund um den Hof. Gedämpfte Geräusche von Fernsehapparaten und Radios mischten sich. Eine rotweiße Katze strich über das Geländer des Außengangs zu ihrer Rechten.
    Michael saß auf der Treppe, den Rücken an der Wand, die Beine ausgestreckt, eine aufgeschlagene Zeitung in den Händen.
    »Glauben Sie mir«, sagte er und zog die Beine an, »ich kann dieses Ding von vorn bis hinten durchlesen, Wort für Wort, und wenn Sie mich fünf Minuten später fragen würden, was ich gelesen habe, hätte ich keinen blassen Schimmer.«
    Lynn stand immer noch wie angewurzelt da.
    »Hier«, er hielt ihr die Zeitung hin, »machen Sie die Probe. Name des Regierungschefs von Bosnien-Herzegowina. Dienstältester Abgeordneter im Oberhaus. Nennen Sie die Bestimmungen des Vertrags von Maastricht. Nichts davon könnte ich Ihnen sagen.«
    »Wie lange sind Sie schon hier?«, fragte Lynn.
    »Ach, ich habe nicht auf die Uhr geschaut, aber ein, zwei Stunden werden es schon sein.«
    Sie wandte sich ab und blickte in das Licht, das in einer Spirale zum Fuß der Treppe hinabfiel. Regenschleier dahinter.
    »Sie sind doch nicht böse?«
    »Weswegen?«
    »Dass ich hergekommen bin.«
    Böse? Sollte sie böse sein? Lynn sah ihn an, wie er dort saß, und versuchte, das Lächeln abzuwehren, das seine Augenihr schickten. Wie lange war es her, dass jemand auch nur fünf oder zehn Minuten auf sie gewartet hatte? »Nein, ich bin nicht böse.«
    Sofort sprang er auf. »Wollen wir dann gehen?«
    »Wohin?«
    Er schien enttäuscht. Verwirrt. »Haben Sie meine Nachricht nicht bekommen?«
    »Nein. Was für eine Nachricht?«
    »Wegen heute Abend. Essen gehen.«
    Das eiserne Treppengeländer war kalt unter ihrer Hand. »Ich habe keine Nachricht

Weitere Kostenlose Bücher