Nebel über dem Fluss
pfeifend ging er davon. Diesmal nicht, dachte er. Hieß das nicht, dass es ein nächstes Mal geben würde?
Durch den aufsteigenden Dampf ließ Lynn sich ins heiße Wasser gleiten. Hatte er gemerkt, dass sie sich gewünscht hatte, er würde sie küssen, als er da kaum einen Atemhauch entfernt neben ihr gestanden hatte? Es war so lange her, dass ein Mann sie so angesehen, sie mit Blicken geliebt hatte.
Und trotzdem fröstelte sie bei dem Gedanken an seine Berührung.
43
Alice Skelton war im Bademantel, hatte ein Handtuch um die Haare gewickelt, eine Zigarette zwischen den Lippen. Es war zwanzig nach sechs Uhr morgens. Sie hatte seine Tochter – so versuchte sie Kate jetzt zu sehen, es machte vieles leichter – gegen drei nach Hause kommen hören. Ohne sich noch die Mühe zu machen, leise zu sein, ohne vorsichtiges Geflüster und Gekicher, während sie irgendeinem Jungen einen letzten feuchten Kuss gab und sich bückte, um die Schuhe auszuziehen. Dieser Tage – dieser Nächte – wurde mit Türenknallen und lautem Geschrei Abschied genommen, und wer immer sie nach Hause gefahren hatte, drehte die Anlage im Auto wieder auf, ehe er das Ende der Einfahrt erreicht hatte. Alice hatte wach gelegen, sich nicht gerührt, auf die Attacke auf den Kühlschrank gewartet, das Rauschen der Toilettenspülung, das Zufallen der Schlafzimmertür. Mein Gott, Mädchen, dachte sie, washätte ich mit meinem jungen Leben angefangen, wenn ich deine Freiheit gehabt hätte? Hätte ich es weniger oder noch mehr verpfuscht?
Neben ihr, so weit draußen an der Bettkante wie möglich, schlief Jack Skelton ruhig weiter, nur ab und zu zuckte sein Körper wie von seinen Träumen geschreckt.
Um vier hatte Alice aufgegeben und war nach unten gegangen. Süße Kekse. Eis. Kaffee mit einem Schuss Gin. Zigaretten. Schließlich Gin pur. Sie ließ sich ein Bad ein und streckte sich in der Wanne aus, den Kopf auf einem Plastikkissen, während sie BBC World Service hörte: ›Londres Matin‹, die Frühnachrichten in Französisch.
Nach dem Bad überlegte sie, ob sie wieder nach oben gehen und sich anziehen sollte, als das Telefon läutete.
»Hallo? Mrs Skelton? Hier spricht Helen Siddons.«
»Und es ist praktisch noch Nacht.«
»Tut mir leid. Ich hätte nicht um diese Zeit angerufen, wenn –«
»Wenn es nicht dringend wäre.«
»Richtig. Ist Ihr Mann da?«
Wenn er nicht bei dir ist, dachte Alice, wird er wohl hier sein. »Er schläft wahrscheinlich noch. Er ermüdet in letzter Zeit so leicht.«
»Könnten Sie ihn bitten, ans Telefon zu kommen? Es ist –«
»Dringend, ich weiß.« Sie ließ den Hörer einfach aus der Hand fallen, so dass er gegen die Wand schlug und dann an dem gedrehten Kabel hin und her baumelte. »Jack«, rief sie die Treppe hinauf. »Telefon für dich. Ich glaube, es ist der Massageservice.«
Helen hatte sich durch alle Vernehmungsprotokolle des Falles Rogel gearbeitet, ohne eigentlich zu wissen, was sie suchte, aber immer im Vertrauen darauf, dass es ihr sofort ins Auge springen würde, wenn sie es fand. Motiv, Gelegenheit,irgendeine Verbindung, die sie übersehen hatten. Etwas, dessen Bedeutung sie damals nicht erkannt hatten, aber jetzt …
Die Leute, die damals vernommen worden waren, ließen sich in drei Kategorien aufteilen: solche, die Hass oder Groll gegen die drei Hauptbetroffenen getrieben haben konnte, bekannte Straftäter mit einer Vorliebe für Erpressung und schließlich eine eher bunt zusammengewürfelte Gruppe von Leuten, die zur Tatzeit in der Umgebung gewesen waren und sich auffällig verhalten hatten. Über die Hauptverdächtigen war gründlich ermittelt worden, andere Personen, vor allem der letzten Gruppe, hatte man oberflächlicher behandelt. Damals hatte man sie als nicht so wichtig angesehen. Aber als diese Personen jetzt genauer unter die Lupe genommen wurden, zeigten sich ungeheure Erkenntnislücken.
Helen fragte sich, wie gewissenhaft einige dieser Aussagen überprüft worden waren – das erste Alibi, ja, das zweite oder dritte vielleicht nicht mehr? Und wusste man etwas darüber, was aus den Leuten geworden war, nachdem sie aus dem Kreis der Verdächtigen ausgeschieden waren? Sehr wenig, vermutete sie. In manchen Fällen überhaupt nichts. Wie einfach dann für einen von ihnen, eine Zeitlang still zu halten und schließlich seine Zelte abzubrechen und zu verschwinden. An einem anderen Ort wieder von vorn anzufangen.
»Nimm jemanden mit«, sagte Skelton. »Jemanden aus
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