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Nebel über dem Fluss

Nebel über dem Fluss

Titel: Nebel über dem Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ihr Bad beenden müssen, ob sie wollte oder nicht.
    Im Radio ging ein Werbespot für Kwick-Fit-Autowerkstätten zu Ende und die Musik setzte wieder ein. Sie hatten den ganzen Abend hindurch immer wieder Songs der Everly Brothers gebracht, und jetzt spielten sie den nächsten ab: ›Till I Kissed You‹. Ihre Mutter liebte die Musik der beiden, hatte, als Lynn noch ein junges Mädchen gewesen war, bei der Arbeit in der Küche immer irgendetwas von ihnen vor sich hin gesungen. Damals, als es zum Singen noch Grund gab. Sie hatte einmal sogar eines ihrer Konzerte besucht. In Yarmouth musste das gewesen sein. Phil und Don Everly. War da nicht einer der beiden krank geworden? Hatte nicht auftreten können. Wegen Alkohol oder Drogen. Don oder Phil.
    Lynn richtete sich in der Wanne auf, und das Wasser wallte kalt um ihre Hüften. Vielleicht war gerade irgendein Jahrestag des Duos. Vielleicht war auch einer von ihnen gestorben und was sie da hörte, war ein Tribut an den Toten. Hoffentlich nicht, wenn ihre Mutter eins nicht brauchte, war es ein weiterer Grund zur Traurigkeit. Lynn schloss einen Moment die Augen und sah vor sich Robin Hiddens Gesicht.
    Als sie ihm am Morgen die Nachricht von Nancys Tod überbracht hatte, war er, noch während sie sprach, aschgraugeworden. Sie musste zusehen, wie sein Gesicht gleich einem Ballon, der Luft verliert, in sich zusammenfiel, als würde ihm alles Leben entzogen. »Möchten Sie sich nicht setzen?« Billige Worte, billig und unpassend. »Soll ich Ihnen eine Tasse Tee machen?« Aber er war ihrer Aufforderung gefolgt, und Lynn hatte in der Küche zwischen ungespültem Geschirr und leeren Lebensmittelpackungen den Tee gesucht und gefunden.
    »Sie haben keine Milch da.«
    »Ich weiß. Tut mir leid, ich   …« Hilflos sah er sie an, noch immer unfähig zu weinen.
    »Warten Sie hier«, sagte Lynn. »Ich gehe schnell runter in den Laden und hole welche.«
    Als sie wiederkam, hatten sich die Tränen Bahn gebrochen, seine Augen schwammen in wässrigem Glanz. Sie saßen in dem stickigen Zimmer zusammen und tranken Tee, während er ihr erzählte, wie er Nancy das erste Mal begegnet war, damals, als er beim Marathon Krämpfe bekommen hatte. Und wie er sie zum letzten Mal gesehen hatte.
    »Ich hätte ihr nachlaufen sollen«, sagte er, »statt sie einfach so gehen zu lassen.« Entsetzen und Schuldgefühl schwangen in seiner Stimme. »W-wenn ich ihr n-nachgelaufen wäre, wäre es nicht passiert.«
    »Das konnten Sie nicht wissen.«
    »Aber wenn!«
    »Sie hat selbst entschieden. Sie wollte nicht mit Ihnen zusammen sein. Sie wollte weg von Ihnen. Wenn Sie sie nicht hätten gehen lassen, hätte sie es Ihnen nicht gedankt.« Tränen liefen Robin Hidden über das Gesicht. »Jetzt schon.«
    Als er zu schluchzen begann, trat sie neben ihn und hielt ihn an der Schulter. Er tat ihr ehrlich leid, trotzdem sah sie verstohlen auf die Uhr.
    »Meinen Sie nicht«, sagte sie später, als er sich nach vielenvollgeweinten Papiertüchern beruhigt hatte, »es würde Ihnen guttun, wenn Sie erst mal eine Weile hier rauskämen? Sie könnten wegfahren. Sie haben doch Familie.«
    »Aber da will ich nicht hin.«
    »Wie steht’s mit Freunden? Haben Sie nicht einen Freund?«
    »Mark, ja.«
    »Richtig, Mark. Könnten Sie nicht zu ihm fahren? Kommen Sie, rufen Sie ihn an.«
    »Hm, ja   … Vielleicht   …«
    »Tun Sie’s. Sie gehen doch oft zusammen klettern?«
    »Ja.«
    Schon am Steuer ihres geliehenen Wagens sitzend hatte Lynn sich noch einmal umgesehen. Irgendwie hatte sie erwartet, dass er herunterschauen würde, aber hinter dem Fenster zwischen den halb zugezogenen Vorhängen war niemand gewesen. »Wie soll ich das je begreifen?«, hatte Robin gefragt. »Dass ich sie nie wiedersehen werde. Niemals.«
    Lynn merkte, als sie den Stöpsel zog und aus der Wanne stieg, dass sie die ganze Zeit in Gedanken bei ihrem Vater gewesen war; vorher wie jetzt. Wenn es dazu kommen sollte, wie würde sie begreifen, dass sie ihn nie wiedersehen würde? Zumindest nicht lebend. »Dream, dream, dream«, sangen die Everly Brothers. Lynn drehte das Radio aus. Sie war noch dabei, sich abzutrocknen, als es draußen läutete.
    Vor der Tür stand Michael, in der Hand eine in grünes Seidenpapier eingeschlagene Flasche Wein. »Ich dachte mir, Sie haben sicher einen harten Tag hinter sich und hätten Lust, ein bisschen zu entspannen, einfach mal abzuschalten.«
    Lynn hatte ihren Bademantel übergezogen und den Gürtel fest geschnürt. Sie sah die

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