Nebel über dem Fluss
unfrisiert, als Josie mit den Kindern zurückkam.
»Mensch, Mädchen, du siehst aus, als hätte dich einer rückwärts durch ’ne Hecke gezerrt.« Sie neigte sich so nahe, dass sie ihr ins Ohr flüstern konnte: »Er hat dich doch nicht wieder fertiggemacht?«
Michelle schüttelte den Kopf. »Nicht so, wie du meinst.«
Josie verdrehte die Augen. »Ach so! Weißt du, als ich so siebzehn, achtzehn war, hab ich mir eingebildet, wenn einernicht jede Nacht mit mir poppen will, geht die Welt unter. Aber jetzt …« Sie schüttelte den Kopf und sah Michelle vielsagend an. »Jetzt geht mir das Ganze echt am Arsch vorbei. Brian inklusive.«
Sie lachte so heftig, dass sie sich an Michelle festhalten musste, um halbwegs im Gleichgewicht zu bleiben. Josie. Nach Michelles Berechnungen war sie gerade einmal einundzwanzig.
26
Lynn erwachte schweißgebadet, und es dauerte viel zu lang, bis ihr bewusst wurde, dass sie geträumt hatte. Die Decke, die sie in der Nacht gegen die Kälte über das Daunenbett geworfen hatte, war fest wie ein Strick zwischen ihren Beinen zusammengedreht. Das Daunenbett war auf den Boden gefallen. T-Shirt , Schlüpfer, Socken, alles war durchnässt. Das dunkle Haar klebte ihr in Strähnen am Kopf.
In einem Nachthemd wie sie nie eines besessen hatte, einem langen weißen Ding aus steifem Stoff wie aus ›Rebecca‹ oder ›Jane Eyre‹, war sie zwischen den Hühnerhäusern umhergestreift, als sie das Geräusch hörte.
Im Mondlicht, das Schatten auf die festgetrampelte Erde und die verwitterten Bretter der Hühnerhauswände warf, rannte sie los, um dem Schrei zu folgen, der hoch und schrill war wie der sich paarender Wildkatzen. Zuerst glaubte sie, das hohe Holztor wäre geschlossen, aber als sie sich dagegenwarf, erkannte sie, dass es nur klemmte. Stück um Stück gab es nach, bevor es plötzlich ganz aufsprang und sie stolpernd in den Schuppen fiel.
Durch die hohen Maschendrahtfenster strömte gedämpfter Mondschein. Ihr Vater war auf die hohe Förderanlage geklettert und nun hing er dort, am Hals aufgeknüpft; seine Kehle war durchschnitten. Von der Stille ermutigt schwirrtenblauschimmernde Fliegen brummend um das dunkle gerinnende Blut.
Als Lynn sich wie rasend an seine Beine stürzte, riss der Strick und der Körper fiel auf sie herab. Seine Hände und Füße waren knochig und kalt, und die Augen, die sie ansahen, lächelten.
Sie schrie sich wach und stand auf. Sie zog das feuchte Bettzeug ab und warf es neben der Decke und ihren Kleidern auf den Boden. Einige Augenblicke blieb sie still stehen, den Kopf zu den Knien hinuntergebeugt, und versuchte, ruhig zu atmen. Es war fünf vor halb vier. Wider alle Vernunft hätte sie jetzt am liebsten zu Hause angerufen, um sich zu vergewissern, dass mit ihrem Vater alles in Ordnung war. Sie zog ihren Morgenrock über, band den Gürtel fest zu und setzte Teewasser auf. Aus dem Bad holte sie ein Handtuch und frottierte sich das Haar.
Wenn etwas passiert wäre, hätte ihre Mutter sie angerufen. Außerdem hatte sie Sorgen genug, da brauchte sie nicht noch eine Tochter, die nach einem bösen Traum Trost suchte.
Lynn konnte sich gut erinnern, wie die Mutter in ihrer unvermeidlichen, mit Mehl bestäubten Schürze an dem schmalen Bett gesessen hatte, das Lynn sich mit einer Familie mehr oder weniger lädierter Puppen und einem abgeknutschten Pandabären teilte, und sie liebevoll gestreichelt hatte. »Ist ja gut, Liebes. Es war nur ein Traum. Nur ein dummer alter Traum.«
Da sie vergessen hatte, Milch einzukaufen, begnügte sich Lynn mit einer halben Tasse Tee ohne Milch, bevor sie ins Bad ging und sich unter die Dusche stellte. Erst da, unter dem Strahl des heißen Wassers, begann sie zu weinen.
Beunruhigt über den Stillstand ihrer Ermittlungen im Fall Nancy Phelan, beunruhigt über den ungewohnt verhärmten Zug, der ihm an Lynn aufgefallen war, die dunklenSchatten unter ihren Augen, beunruhigt auch über sein scheinbar unlösbares Silvesterdilemma, war Resnick beim Zubettgehen überzeugt gewesen, dass er kein Auge zutun würde, und hatte dann geschlafen wie das sprichwörtliche Murmeltier. Erst Dizzy, der hartnäckig, beinahe verzweifelt an Resnicks Kopfkissen kratzte, gelang es, ihn zu wecken. Es war kurz vor sechs, aber Resnick kam es vor, als hätte er verschlafen, sein Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt.
Während Resnick duschte, vertrieb sich Dizzy die Zeit damit, am Rahmen der Badezimmertür seine Krallen zu schärfen. Die anderen
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