Nebel über dem Fluss
ihren zwei eigenen Kindern zusammen in den Park mitzunehmen, und Michelle hatte dankbar angenommen. Natalie hatte nach dem Stillen ungefähr zwanzig Minuten lang bald krähend, bald schreiend in ihrem Bettchen gelegen, aber jetzt schlief sie. Michelle hatte das Spülbecken in der Küche sauber gemacht, den Müll hinausgetragen; zum ersten Mal in seinem Leben hatte Gary die angebotene Tasse Tee knurrend abgelehnt, und sie war mit ihrer nach oben gegangen, um Ordnung zu machen.
Staubflusen hatten sich in den Ecken der Treppenstufen angesammelt.
In der Kammer am hinteren Ende des Flurs schlief Natalie, den Daumen im Mund, ein kleines Bein zwischen den Stäben des Gitterbetts entblößt. Michelle schob es vorsichtig wieder unter die Decke. Es war eiskalt. Sachte berührte sie mit den Lippen die Wange ihrer kleinen Tochter, die wenigstens war warm. Sie ließ die Tür angelehnt und ging, fröstelnd vor Kälte, ins andere Zimmer.
Zwei Strumpfhosen hingen über dem Fußende des Betts, die eine voller Laufmaschen. Gary hatte seine Sachen überall verstreut, da ein Hemd, dort Boxershorts, Socken auf dem Boden. Dem Kragen nach zu urteilen, war das Hemd noch für einen Tag gut, und sie hängte es wieder in den Spanholzschrank, den sie sich bei Family First geholt hatten. Drinnen lag, achtlos hineingestopft, Garys Reißverschlussjacke, sein Lieblingsstück. Als Michelle sich bückte und sie herauszog, fiel ihr das Messer entgegen.
Sie zuckte zurück und schrie auf, aber es geschah nichts: Die Kleine wachte nicht auf, Gary brüllte nicht von unten herauf. Der Fernseher dröhnte weiter, verschwommenes Gemurmel, dem kein deutliches Wort zu entnehmen war.
Der Griff des Messers war abgerundet, mit Isolierband umwunden. Die breite Klinge, an die fünfzehn Zentimeter lang, verjüngte sich zu einer scharfen Spitze. Fast ganz vorn war ein Stück aus der Klinge herausgebrochen, als wäre sie gegen harten Stein geprallt.
Das Messer lag vor ihrem einzigen anständigen Paar hochhackiger Schuhe, eine stumme Herausforderung.
»Sie haben Nancy zu keiner anderen Zeit gesehen? Auch nicht am Abend? Später am Abend? Am Weihnachtsabend?«
»Ich hab’s Ihnen doch gerade gesagt. Ich bin nicht mehr weg gewesen.«
Langsam und widerwillig beugte sich Michelle zu dem Messer hinunter. Versuchte, es sich in einer wütend erhobenen Männerhand vorzustellen.
»’chelle? Michelle?«
Eine Sekunde vor der Stimme hörte sie das Quietschen der losen Diele im Flur. Mit stockendem Atem zog sie die Jacke wieder über das Messer, schob beides mit dem Fuß tiefer in den Schrank und schloss die Tür.
»Da bist du ja.« Er lächelte, die Lippen leicht geöffnet, die Mundwinkel ein wenig herabgezogen. »Ich hab mich schon gefragt, was du machst.«
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, sie konnte sich nicht vorstellen, dass er es nicht hörte.
»Was ist los?«
Michelle wagte nicht zu sprechen und schüttelte nur den Kopf.
»Eine tolle Küche ist das.« Er wies mit einer Kopfbewegung nach unten. »Du schneidest einfach alles klein und haust es in ein Glas Erdnussbutter.« Er zwinkerte. »Vielleicht sollten wir das mal versuchen.«
Michelle, die etwas ruhiger geworden war, trat von der Schranktür weg.
»Natalie schläft, oder?«
»Ich sehe mal …«
Gary packte sie beim Arm, als sie an ihm vorbei wollte. Irgendetwas hing in den dünnen Haaren neben seiner Lippe.
»Was wolltest du denn hier oben?«
»Aufräumen. Die Sachen da –«
»Ach, ja? Ich dachte, du hättest vielleicht was anderes im Sinn. Du weißt schon …« Sein Blick flog zum Bett. »Wo Karl gerade mal aus der Bahn ist.«
»Sie kommen doch gleich zurück«, begann Michelle.
Mit einer Hand griff er unter den Gürtel ihrer Jeans und lachte. »Ach was, so schnell bestimmt nicht.«
Während unter ihr die stählernen Sprungfedern quietschten, konnte Michelle immer nur an das Messer denken. Während Gary mit fest zugedrückten Augen immer wieder in sie hineinstieß, den Mund nur öffnete, um laut jenen Namen für sie zu rufen, den sie hasste, bevor er endlich, endlich aufschrie, sah sie nur die geschwungene Messerklinge, meinte ihre scharfe Spitze zu fühlen.
Als er über ihr niederfiel und sich, das Gesicht ins Laken gedrückt, zurückzog, tastete sie vorsichtig abwärts, gewiss, dass die Nässe dort unten mit Blut gemischt sein müsste.
»Michelle?«
»Ja?«
»Sei ein Schatz und mach uns eine Tasse Tee.«
Sie war auf dem Weg nach unten, in Pulli und Jeans, das Haar
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