Nebel über dem Fluss
beantwortete, merkte sie sofort, dass die Liste, die er bei seiner Versicherung einreichen würde, zu fünfzig Prozent Gewinnerwartung sein würde.
Ach ja, und sie hatte noch bei Martin Wrigglesworth vorbeigeschaut, ihn zwischen zwei Klienten erwischt und ein paar Worte über Gary James und seinen letzten Wutausbruch mit ihm gesprochen. Wrigglesworth war zurückhaltend gewesen, ständig auf der Hut, wie alle Sozialarbeiterdieser Tage, und besorgt, dass man ihm ein Verfahren anhängen würde, wenn er zu schnell und aus zu geringem Anlass eingriff.
»Ja, aber was ist mit den Kindern?«, hatte Lynn gefragt.
Wrigglesworth hatte an seinem Schnurrbart gezupft. »Wir waren mit dem Jungen beim Arzt, und es ist nichts dabei herausgekommen. Wir brauchen schon etwas mehr, bevor wir noch einmal eingreifen können.«
Was braucht ihr denn mehr als das zerschundene Gesicht eines zweijährigen Jungen?, hatte Lynn gedacht. »Könnten Sie nicht einen Vorwand finden, um in den nächsten Tagen noch mal dort vorbeizuschauen?«
Martin Wrigglesworth hatte versprochen, dass er es versuchen wolle, und Lynn war gegangen. Sie wusste, dass sie mehr nicht erreichen konnte, und hoffte immer noch, dass Michelle Paley sich ihrer Nummer erinnern und sie anrufen würde.
Sie war nicht hungrig gewesen, als sie schließlich aufbrach, und wollte jetzt, wo ihr Magen sich meldete, die Fahrt nicht unterbrechen. Also fuhr sie, ohne lange zu überlegen, hinaus zu McDonald’s, setzte sich ans Fenster, schaute zu den Lichterketten des vorüberrauschenden Verkehrs hinaus und bemühte sich, nicht weiter an das Fischfilet zu denken, das sie aß. Neunundzwanzig Prozent frischer Fisch wurde da stolz angepriesen. Und der Rest?
Sie hatte auf der Dienststelle eine neue Aufgeregtheit gespürt, die offensichtlich mit dem Fall Nancy Phelan zu tun hatte, aber nur am Rande mitbekommen, was vor sich ging. Im Kanal bei Beeston Lock sei eine Leiche gefunden worden, hatte jemand gesagt. Sie hatte nichts gehört, was das bestätigt hätte. Kevin Naylor, der im Dienstraum saß und seinen Papierkram erledigte, hatte auf ihre Frage nur gesagt: »Der Typ, der sie entführt hat, hat sich gemeldet. Es gibt ein Band, mehr weiß ich nicht.« Sie war an ihremSchreibtisch gewesen, als Dana Matthieson blass und den Tränen nahe aus Resnicks Büro gekommen war. Bei dem Blick, mit dem sie sich an der Tür noch einmal nach Resnick umgedreht hatte, hatte sich Lynn der Gedanke aufgedrängt, dass sich zwischen den beiden vielleicht etwas angebahnt hatte. Und wenn schon, dachte sie und biss in ihr dubioses Fischfilet. Was geht mich das an?
Fünf Minuten später war sie wieder unterwegs.
Im ersten Moment, als sie von der Straße abbog und das Licht ihrer Scheinwerfer über die rauverputzte Fassade strich, dachte Lynn, das Haus wäre dunkel. Aber in der Küche brannte Licht, und aus der Hintertür kam ihre Mutter gelaufen und warf sich ihr an den Hals.
»Wie geht es ihm?«, fragte Lynn sich aus der Umarmung lösend.
»Ach, Lynnie, es ist einfach schrecklich.«
Ihr Vater war im vorderen Wohnzimmer, das nur gelegentlich bei sonntäglichen Teeeinladungen und zu besondern Anlässen benutzt wurde. Das letzte Mal hatte Lynn, soweit sie sich erinnern konnte, ihren Vater dort nach Tante Cissies Beerdigung gesehen, voll Unbehagen in seinem schwarzen Anzug, ungeduldig darauf wartend, der höflichen Trauer und den Würstchen im Teigmantel entfliehen und zu seinen Vögeln zurückkehren zu können.
Jetzt saß er steif und kerzengerade auf einem harten Mahagonistuhl, dessen Sitzfläche er mit zwei Kissen gepolstert hatte.
»Dad, warum legst du dich nicht aufs Sofa?«
Die Augen in dem grauen Gesicht waren voller Schmerz. »Weißt du«, sagte er und stöhnte leise, als er sich nach ihr umdrehte, »dass diese Leute mir nicht mal ein Glas Milch erlauben?«
Sie hatten verordnet, ihm zwei Tage lang nur halbfesteNahrung zu verabreichen, an diesem letzten Tag waren nur noch klare Flüssigkeiten erlaubt. Lynn setzte sich auf die Armlehne des Sofas und ergriff seine Hand. Die Abführmittel, die er bekommen hatte, schienen ihm alles Leben entzogen zu haben. Seine Wange war schlaff und kalt unter ihren Lippen, als sie ihn küsste.
»Was soll nur aus deiner Mutter werden?«, fragte er.
»Wie meinst du das? Was soll aus ihr werden?«
»Wenn ich tot bin.«
»Aber Dad, um Himmels willen. Es ist doch nur eine Untersuchung, eine reine Vorsichtsmaßnahme. Es wird alles gut, du wirst sehen.«
Sie nahm eine
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