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Nebel über dem Fluss

Nebel über dem Fluss

Titel: Nebel über dem Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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seiner blaugeäderten Hände und hielt sie an ihren Mund. Seine Finger rochen nach Alter und Verfall.
    »Was soll nur aus deiner Mutter werden?«, fragte er wieder.
     
    Das Krankenhaus war nicht weit von der Stadtmitte entfernt und sah aus wie ein von einem phantasielosen Kind aus Legosteinen aufgetürmter Kasten. Die Räume waren niedrig und von Neonröhren erleuchtet. Krankenhausangestellte eilten durch die Korridore, während die Besucher dastanden und die adretten grün-weißen Hinweisschilder studierten. Sie teilten sich den Aufzug mit einer alten Frau, die, an einen Tropf angeschlossen, schlafend in einem Krankenbett lag. Der Pfleger pfiff ›Mr Tambourine Man‹ und lächelte Lynn zu.
    Die Schwester hatte leicht den doppelten Umfang von Lynn. Sie nannte Lynns Vater Schätzchen und versicherte ihm, sie würde sich schon um ihn kümmern, versprach ihm eine schöne Tasse Tee, wenn es vorbei war. »Wenn Sie wegen der Endoskopie noch mit Dr.   Rodgers sprechen wollen«, sagte sie zu Lynn.
    Auf dem Schreibtisch standen Blumen und eine glänzendpolierte Holzschale. Der Darmspezialist trug einen weißen Kittel, eine dunkle Hose und an den Füßen Tennisschuhe. Er hatte eine randlose Brille mit achteckigen Gläsern auf der Nase und sprach Dialekt, den auch sieben Jahre Privatschule nicht abgeschliffen hatten. Er begrüßte Lynn mit festem Händedruck und einem Blick auf seine Uhr. »Bitte, nehmen Sie Platz.«
    Lynn blieb lieber stehen.
    »Ich will Ihnen kurz erklären, was wir gleich tun werden«, sagte er. »Mit einem Endoskop, das in den Darm eingeführt wird, sehen wir uns das Innere des Kolons Ihres Vaters an.« Lynn krampfte sich der Magen zusammen bei der Vorstellung. »Das kann ein wenig unangenehm werden, muss aber nicht unbedingt mit Schmerzen verbunden sein. Viel hängt von der Einstellung Ihres Vaters ab. Und von Ihrer.«
    »Er hat Todesangst«, erklärte Lynn.
    »Ah.«
    »Er ist überzeugt, dass er sterben muss.«
    »Dann müssen Sie ihn davon überzeugen, dass es nicht so ist. Seien Sie stark für ihn.«
    »Und wenn Sie etwas finden«, fragte Lynn, »wie geht es dann weiter?«
    Der nächste Blick auf die Uhr. »Sollten wir auf etwas stoßen, was nach einer Wucherung aussieht, werden wir eventuell eine Gewebeprobe entnehmen und sie genau untersuchen. Danach wissen wir mehr.«
    »Und wenn es Krebs ist?«
    »Dann behandeln wir ihn.«
     
    Man hatte ihn in ein weißes Krankenhaushemd gesteckt, das im Rücken gebunden war, und ihm ein Beruhigungsmittel gegeben. Aber er war wach.
    »Nur keine Aufregung«, sagte die Schwester. »Ich halteihm die ganze Zeit die Hand.« Sie lachte. »Drinnen ist ein Bildschirm, da kann er genau sehen, was passiert, wenn er will.«
    Lynn glaubte nicht, dass ihr Vater darauf Wert legen würde. Er leistete ja nicht einmal ihrer Mutter Gesellschaft, wenn sie sich Blockbusters anschaute. Sie ging nach unten und setzte sich in die Kantine. Eine ältere ehrenamtliche Helferin, mit der sie sich eine Weile über das Wetter unterhielt, versicherte ihr, dass die Marmeladentörtchen selbst gemacht seien. Lynn nahm gleich zwei, Aprikose und Kirsche, und eine Tasse Tee dazu. An den Wänden hingen Bilder, die die Kinder der örtlichen Grundschule gemalt hatten, licht wie die Hoffnung und lebensfroh. Die Törtchen waren vielleicht selbst gebacken, aber die Füllung war aus der Dose. Sie fragte sich, wie es weitergehen sollte, wenn ihrem Vater wirklich etwas passierte, trug alle Gründe zusammen, warum sie, ganz gleich, was geschah, keine Versetzung beantragen und nach Hause zurückkehren sollte.
    »Ihrem Vater geht es gut«, sagte der Arzt, als sie wiederin seinem Büro saß. »Er klagt ein wenig über leichte Beschwerden, aber sonst ist alles absolut in Ordnung. Er ist eine echte Persönlichkeit.«
    Lynn schluckte; alles würde gut werden.
    »Allerdings haben wir eine Veränderung festgestellt. Einen kleinen Tumor.«
    »Aber   –«
    »Wir haben die Chance genutzt und gleich eine Biopsie durchgeführt.«
    »Sie sagten   –«
    »Günstig ist, falls er wirklich kanzerös sein sollte, dass er ziemlich weit oben im Darm sitzt. Da ist es leichter, nach der Operation, wenn wir den erkrankten Teil herausgeschnippelt haben, den Rest zusammenzufügen, so dass danach alles wieder mehr oder weniger normal funktioniert.«Er blickte Lynn an, um zu sehen, ob sie ihm folgte. »Das heißt, es ist keine Kolostomie erforderlich.«
     
    Die ganze Heimfahrt über starrte ihr Vater zum Fenster hinaus, wo

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