Nebel über dem Fluss
Häuserkanten mit der dichter werdenden Dunkelheit verschmolzen, Erinnerungen an freie Felder Raum gewannen. Lynn sprach ihn mehrmals an, erhielt aber keine Antwort und war insgeheim froh darüber, weil sie gar nicht über das sprechen wollte, was drückend zwischen ihnen lag und auf Erörterung wartete. Im Radio ging es um Rezession, ethnische Säuberung und den Aufstieg der deutschen Rechten. Lynn schaltete es aus und hielt den Blick auf die Schneise gerichtet, die ihre Scheinwerfer durch den Nieselregen schlugen.
Ihre Mutter hatte etwas zu essen gerichtet, Schinken und Salat, harte Eier, in Hälften geschnitten und jede mit einem Klecks Mayonnaise garniert, dicke Scheiben Weißbrot, Butter und Tee.
»Bleib doch über Nacht, Kind.«
»Ich kann nicht, Mama, tut mir leid. Ich muss morgen früh raus.«
An der Tür hielt sie ihren Vater an sich gedrückt, bis sie sicher war, seinen Herzschlag zu spüren.
Es regnete stärker, Wasser spritzte vom schwarz glänzenden Asphalt auf, klatschte jedes Mal, wenn ein anderes Fahrzeug sie passierte, in einer Riesenwelle auf ihre Windschutzscheibe, und plötzlich weinte sie. Die Tränen sprangen ihr aus den Augen, als wäre ein Damm gebrochen, und sie begann heftig zu zittern. Das Lenkrad umklammernd beugte sie sich weit nach vorn, um besser sehen zu können. Hinter ihr scherte ein Lastwagen aus, und als er an ihr vorbeibrauste, wurde sie in seinem Sog zur anderen Fahrbahn hinübergezogen. Ihr Spiegel fing blendend das grelle Lichtvon Scheinwerfern ein, und jemand hupte ohrenbetäubend. Halb blind versuchte sie, ihre Spur wiederzugewinnen, als eine Windbö den Wagen von der Seite traf. Mit offenem Mund laut schluchzend merkte sie, wie der Wagen ins Schleudern geriet, und als sie bremsen wollte, rutschte ihr Fuß vom Pedal. Der Wagen prallte mit der Beifahrerseite krachend gegen irgendetwas Hartes, und sie wurde ruckartig nach vorn geschleudert. Der Gurt rettete sie vor einem Schlag gegen die Windschutzscheibe, aber nicht gegen das Lenkrad. Blut und Tränen brannten ihr jetzt in den Augen.
38
Das Gute an blauem Stilton war, fand Resnick, dass sein Aroma bei genügender Reife nicht totzukriegen war, ganz gleich, was man dazu aß. Diese Ecke hier, den Rest eines Riesenstücks, das er vor Weihnachten auf dem Markt gekauft hatte, drückte er in eine Scheibe Schwarzbrot und belegte sie dann mit schmalen Streifen getrockneter Tomate, einem halben Dutzend Salamiblättern, einem Stück Schinken und halbierten schwarzen Oliven. Obenauf klappte er eine zweite Scheibe Brot, die er erst mit Knoblauch eingerieben und danach mit Butter bestrichen hatte. Im Salatfach waren noch Tomaten, ein Gurkenende, mehrere welke Radieschen sowie das Herz eines Eissalats, das er fein schnitt. Irgendwie hatte er übersehen, dass sein Vorrat an tschechischem Budweiser zu Ende gegangen war, aber er wusste, dass ganz hinten im Kühlschrank noch eine Flasche Worthington’s White Shield in neuem Design stand. Es waren sogar zwei.
Natürlich hatte er noch immer keinen C D-Player gekauft, und die Billy Holiday Box verstaubte langsam auf dem Kaminsims im Wohnzimmer. Resnick stellte den Teller mit seinem Sandwich auf den Tisch, und während er miteinem Auge darauf achtete, dass nicht ein unternehmungslustiger Kater auf den Tisch sprang und sich über seinen Imbiss hermachte, zog er eine seiner Lieblingsplatten, das ›Clifford Brown Memorial‹-Album, aus dem vollgepackten Regal. Zu den ersten Klängen goss er das Bier ein, vorsichtig, damit der Bodensatz nicht ins Glas floss, und führte die eine Hälfte des durchgeschnittenen Sandwichs mit beiden Händen zum Mund.
Der ›Penguin Guide‹ erwies sich als interessante Lektüre, ein Buch, in dem sich gut blättern ließ, aufschlussreich in Bezug darauf, wer in den Führer aufgenommen worden war und wer nicht. Branford, Ellis und Wynton Marsalis, ja, Delfeayo, nein. Endlose Passagen waren den europäischen Avantgardisten gewidmet, die schwer erhältliche Kassetten in Skandinavien produzierten, aber Tim Whitehead, dessen Quartett Resnick erst kürzlich in Birmingham erlebt hatte, war kein Platz eingeräumt, und auch nicht Ed Silver, untrennbar mit der frühen britischen Bop-Szene verbunden und Resnicks Freund.
Resnick legte das Buch weg und griff nach seinem Glas.
Vor zwei Jahren hatte er Ed Silver mit viel gutem Zureden davon abgebracht, sich mit einer Axt den Fuß vom Körper zu trennen, hatte ihn mit nach Hause genommen und ihm nächtelang Gesellschaft
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