Nebelflut (German Edition)
Ecke. »Die Hintertür steht auf!«
»Wir gehen rein. Bleib hinter mir.« Nun war es Sean, der vorging und sich langsam an die offene Tür heranpirschte. Zwischendurch hielten sie immer wieder inne und lauschten. Doch das Haus schien verlassen zu sein. Und noch etwas fiel Brady auf: Von dem schrottreifen Pick-up war weit und breit nichts zu sehen. Toby hatte gesagt, dass Nate ihn hergebracht hatte. Womit, wenn nicht mit dem Auto?
Brady und Sean positionierten sich links und rechts neben der Tür.
»Nate und Toby Simmon? Kommen Sie bitte aus dem Haus, hier spricht die Polizei!« Auch wenn Sean nicht schrie, war seine Stimme schneidend laut.
Brady kam sich nutzlos und schutzlos vor. Die Situation hatte ihn überrumpelt. Nun stand er ohne Waffe, in völliger Dunkelheit, übernächtigt und angetrunken vor dem mysteriösen Landhaus eines mutmaßlichen Serienmörders. Seine Hände zitterten und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Glücklicherweise behielt Sean einen kühlen Kopf. Mit einem kurzen Blick sicherte er sich nach hinten ab, dann huschte er mit einer Behändigkeit ins Haus, die Brady ihm gar nicht zugetraut hätte.
Er lief Sean nach und es dauerte einen Augenblick, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann eilte er die Treppe hinauf, ohne auf irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen zu achten. »Komm. Toby sagte, er sei oben!«
Sean sog die Luft ein und folgte seinem Kollegen. »McCarthy! Du hast nicht mal eine Waffe!«
Brady eilte die Stufen hoch und blieb in der ersten Zimmertür stehen. Erschrocken starrte er den dunklen Blutfleck an, der sich auf dem Bett gebildet hatte.
»Großer Gott!« Sean schob seinen Kollegen zur Seite und trat ins Zimmer. »Wo ist der Junge?«
Brady war noch immer unfähig, den Blick von der riesigen Blutlache abzuwenden.
»McCarthy! Wo ist der Junge?« Sean war vor ihn getreten und rüttelte an seinen Schultern.
»Ich …« Brady hatte sich gefangen und löste sich aus Seans Griff. »Vielleicht sind sie zusammen abgehauen oder …« Er drehte sich um die eigene Achse und ließ die Augen durch das spartanisch eingerichtete Zimmer schweifen. Die Modellflugzeuge, die von der Decke hingen, wehten im seichten Luftzug. Einige Flieger aus dem Regal waren heruntergefallen und blutverschmiert. Auch auf dem Boden waren Blutstropfen zu sehen, die zum Schreibtisch führten. Und dann entdeckte Brady ihn: Unter der Tischplatte, halb hinter dem Schreibtischstuhl versteckt, kauerte der blonde Simmon-Junge.
»Toby!«
Seine Augenlider waren nur halb geöffnet und an seinem Haaransatz prangte eine tiefe Wunde.
Brady hastete zu ihm. »Einen Arzt, schnell!«
Sean hatte bereits sein Handy gezogen und war in den Flur gegangen.
Brady hockte sich auf den Boden und schob den Schreibtischstuhl zur Seite. »Es wird jetzt alles gut … Der Krankenwagen ist unterwegs.«
Toby zuckte zusammen und schien ihn nicht zu erkennen. Er wich zurück wie ein verwundetes Tier und presste beide Hände gegen die Verletzung. Seine Augen wanderten unstet hin und her. Brady fiel sofort auf, dass seine Pupillen unterschiedlich groß waren.
»Nein, keine Angst … Bleib ganz ruhig …« Brady berührte den Jungen am Arm, was diesen zu einem erschrockenen Schrei veranlasste. »Ist schon gut, ist schon gut, ich bleibe hier, siehst du?«
»McCarthy, ich muss runter! Hier oben habe ich keinen Empfang!«
»Ist gut.«
»Frag ob Nate noch im Haus ist!« Seans schwere Schritte waren auf der Treppe zu hören.
»Ist gut …«, murmelte Brady wieder und wandte sich erneut dem Verletzten zu, auch wenn er bezweifelte, dass dieser ihm eine Antwort geben würde. »Toby? Ist dein Bruder noch im Haus? Ist Nate noch hier?«
Toby blickte ihn an, dann rang er röchelnd nach Luft und sank leblos zur Seite.
»Scheiße, nein!« Mit einem Satz war Brady bei ihm. Erst jetzt erkannte er, dass aus der tiefen Schädelwunde nicht nur Blut, sondern auch Hirnmasse austrat. Brady kämpfte einen Moment gegen die Übelkeit, dann versuchte er, sich an die zahlreichen Erste-Hilfe-Kurse zu erinnern, die er absolviert hatte. Er überprüfte die Atmung und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass sie sehr schwach, aber regelmäßig war. Vorsichtig lagerte er den Oberkörper des Jungen hoch und sah sich nach etwas um, womit er die Wunde steril und locker abdecken konnte, doch er fand nichts.
»Sean! Der Rettungsdienst muss sich beeilen, am besten schicken sie einen Hubschrauber!« Brady überprüfte erneut die Atmung. Seine Hände
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