Nebelflut (German Edition)

die Weichen stellte, um für Vergeltung zu sorgen. Wie sie ihn und seine Familie aufspürte, sie beobachtete, sich einschlich. Zumindest wusste er jetzt, wer die Hotelkarte in seinem Haus deponiert hatte. Wer seinen Wagen gestohlen hatte. Wer die Mordwaffen in den Kofferraum gelegt hatte.
    »Ich nahm mir Zeit. Studierte meine Rollen ein: Sophie, das Kindermädchen, und Chloe, die Reporterin. Ihr habt mich förmlich in euer Haus gezerrt und die Presse hat mir meine Insiderinfos nur so aus den Händen gerissen … Es war so einfach. Man könnte meinen, das Schicksal war ganz auf meiner Seite.« Sie lächelte ihn an. »Deine Kleine ist mir ans Herz gewachsen, das kannst du mir glauben. Sie hat was von mir, findest du nicht? Du hast doch noch etwas Gutes zustande gebracht …«
    Ewigkeiten, wie es ihm vorkam, schauten sie einander nur an. Es war alles gesagt. Es machte alles einen Sinn. Dann löste sich Amy sichtlich von ihm und ihre Züge entspannten sich.
    »Das spielt jetzt alles keine Rolle mehr, oder? Ich verschwinde und dich wird man zum Zweck der Ehrenrettung öffentlich an den Pranger stellen. Ich wette, das Auto hat die Bullen schon zu deinem polnischen Freund geführt. Wenn für ihn ein guter Deal heraus springt, erzählt er sicher von der Waffe, die er dir verkauft hat.«
    Patrick war unfähig, etwas zu sagen. Konnte er ihr verübeln, was sie getan hatte? Konnte er ihr, nach der Hölle, in die er sie geschickt hatte, übel nehmen, dass sie ihm auch eine Hölle bereitet hatte? »Bitte verzeih mir, Amy …«, hörte er sich selbst sagen.
    »Das geht nicht. Die Amy, die du ins Verderben gestürzt hast, ist tot. Und du wirst sie für immer auf dem Gewissen haben.«
    Der Satz hallte in Patricks Kopf wider, als sei er die tiefste und klarste nur mögliche Wahrheit, die man ihm sagen konnte. Und wenn er seine Schwester betrachtete, wusste er, dass sie recht hatte. Sie war Amy und doch nicht Amy. Sie war Amys böser Geist. Amys geschändetes Andenken. Sie erkannte, dass er verstand, und nickte. Dann beugte sie sich zu ihm herunter und küsste ihn auf die Stirn. »Leb wohl, Paddy.«
    Sie brach ab und er nahm eine ruckartige Bewegung wahr, die er nicht einordnen konnte. Er verstand erst, was sie getan hatte, als auf einmal alle Luft aus seinen Lungen wich und ein plötzlicher Schmerz seine Brust zusammendrückte.
    Amy erhob sich. Er wollte etwas sagen, aber er konnte nicht. Er wollte die Hand nach ihr ausstrecken, aber seine Kraft reichte nicht. In der Tür warf sie ihm einen letzten Blick zu und er registrierte die plötzliche Stille. Und noch etwas registrierte er: Das Pumpen der Herz-Lungen-Maschine hatte aufgehört. Genau wie das Piepsen des Herzmonitors. Beides hatte abrupt geendet, als Amy den Stecker gezogen hatte. Patricks Blickfeld verkleinerte sich und Amy verschwand. Das Letzte was er sah, war die große, runde Uhr an der Wand über der Tür. Es war eine Minute vor fünf.

Die Autorinnen

    Nadine d’Arachart und Sarah Wedler , geboren 1985 und 1986 in Hattingen, studieren Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum und schreiben seit mehr als zehn Jahren gemeinsam. Neben zahlreichen Veröffentlichungen in Anthologien und Jahrbüchern erhielten sie verschiedene Preise für ihre Kurzgeschichten und Drehbuchideen. Außerdem nahmen sie am Finale des Open Mike 2011 teil. Zuletzt wurden sie im November 2012 mit dem Förderpreis des Literaturbüro Ruhr ausgezeichnet.
    Ihr erster Roman „Die Muse des Mörders“, ein Remake des E.T.A.-Hoffmann-Klassikers „Das Fräulein von Scuderi“, erschien im Frühjahr 2012. Ihr zweites Buch, der Thriller „Abgründe“ wurde im April 2012 als E-Book veröffentlicht.
    weitere Bücher:
    - „Die Muse des Mörders“ (ISBN: 3-902800-03-8) Labor Verlag, 2012
    - „Abgründe“ (ISBN: 3-8450-0450-9) Satzweiss.com -Chichili Agency, 2012
    - „linie 14 letzte reihe ich“ (ISBN 978-3-89733-282-9) projekt Verlag, 2013
    mehr Infos:
    www.write-fever.de
    www.facebook.com/darachart.wedler