Nebelflut (German Edition)
lebend zu finden. Aber mit jedem Tag der verstrichen war, hat sich irgendwas in Sean geändert. Zuerst hatte er ständig eine neue Theorie, einen neuen Verdächtigen. Er hat sich auf alles gestürzt wie ein Raubtier, so entschlossen war er, die Kleine zu finden. Aber dann, mit den Jahren …«
Stephen zuckte mit den Schultern, als wolle er die Ratlosigkeit seiner Frau unterstützen.
»Du siehst ja selber, was aus Sean geworden ist.«
Brady verzog das Gesicht. »Scheiß Geschichte.«
»Nicht wirklich unterhaltsam, das stimmt.«
Brady nickte nachdenklich. Erst jetzt fiel ihm auf, wie wenig er über seinen Partner wusste. Er kannte seinen Namen und sein Alter, er wusste, wo er wohnte und mittlerweile auch, dass er eine Frau hatte. Da hörte es dann aber auch schon auf. Er wusste so gut wie gar nichts über die Privatperson Sean Callahan und hatte sich bisher jede Mühe gegeben, dass es bei ihrem unpersönlichen Arbeitsverhältnis blieb. Mit Sean hatte er nie in einem Pub gesessen und ein Bier getrunken. Er hatte nicht einmal seine Mittagspause freiwillig mit ihm verbracht. Dass sein Verhalten mehr als kindisch war, wurde ihm erst jetzt bewusst.
Lacey prostete sich mit Stephen zu und Brady bestellte eine neue Runde. Er würde sich morgen noch genug über sein infantiles Benehmen aufregen können.
-64-
Als Brady sich auf den Heimweg machte, dämmerte es bereits. Zuletzt hatte er mit Lacey und Stephen am Ufer der Liffey gesessen, doch irgendwann hatte ihn doch noch die Müdigkeit eingeholt und er war nach Hause geschwankt. Er bog gerade in die Dorset Street ein und konnte sein Wohnhaus schon sehen, als sein Handy schellte. Der blecherne Laut durchdrang die Stille wie typisch irische Polizeisirenen. Brady fuhr zusammen. Er konnte es nicht mehr hören. Wenn der Fall endlich abgeschlossen war, dann würde er erst einmal Urlaub machen. Irgendwo auf einer einsamen Insel, fernab von Mobiltelefonen, Computern und anderen Kommunikationsmitteln.
»Brady McCarthy …?« Er erschrak darüber wie stark er lallte.
»Mister McCarthy, Sie müssen mir helfen«, wisperte eine Stimme, die ihm seltsam bekannt vorkam. »Mein Bruder hält mich hier fest, ich will nicht auch noch sterben!«
Sein alkoholbenebeltes Gehirn brauchte eine Weile bis es verstand.
»… Toby Simmon? Bist du es?«
»Meine Eltern sind schon tot, ich will nicht auch noch getötet werden. Bitte, helfen Sie mir!« Die Panik, die in Tobys Stimme mitschwang, ließ sie höher klingen, doch es bestand kein Zweifel. Brady hatte gerade Nate Simmons vermeintlichen Bruder dran, der offenbar in höchster Gefahr schwebte.
»Ganz ruhig, ganz ruhig. Wo bist du?«
»Auf der Farm! Nate hat mich wieder hergeschafft! Ich wollte zur Polizei gehen, ich habe versucht ihn zu überreden, aber er hat mir gar nicht zugehört. Er ist total wütend geworden und …«
»Ich mache mich sofort auf den Weg.« Brady schaute sich nach einem Taxi um, aber die Straße war wie leer gefegt. Er entschied sich gegen die Vernunft und dafür, seinen Wagen zu nehmen, und hastete auf die gegenüberliegende Straßenseite. »Ich bin unterwegs, Toby. Aber du musst mir ein paar Informationen geben, okay?«
»Okay …« Toby atmete zitternd ein.
»Wo bist du genau?«
»Oben! Nate hatte alle Türen verriegelt, die Fenster vernagelt … Er glaubt, er kann uns so retten, aber ich … « Ein Schluchzen zwang ihn dazu, abzubrechen.
Brady versuchte, den Schlüssel ins Wagenschloss zu bekommen, aber er wollte einfach nicht passen. Nicht nur, dass er das Schloss doppelt sah, er schien zu allem Übel auch noch drei Autoschlüssel in der Hand zu halten. Er dachte einen Moment nach.
»Mister …? Sind Sie noch da?«
»Bin ich … Gut, also …« Brady atmete durch. Dieser verfluchte Alkohol ließ ihn einfach keinen klaren Gedanken fassen. »Ich werde … Kannst du mir sagen, ob ihr zwei alleine im Haus seid?«
»Ja, unsere Eltern sind tot, das sagte ich doch!« Toby drohte, hysterisch zu werden. »Sie sind tot und ich bin der Nächste!«
»Deine Eltern?« Trotz des Alkohols schaltete Brady prompt. »Wie heißen deine Eltern?«
»Ma… Mary und Douglas. Bitte, Mister, Sie müssen herkommen!«
»Das werde ich.« Brady startete noch einen Versuch, den Wagen zu öffnen. Als dieser missglückte, rannte er los. Er wusste, dass Sean nur ein paar Straßen von ihm entfernt wohnte, und hoffte, dass er den Weg dorthin auch betrunken finden würde. »Du bleibst einfach am Telefon, bis wir da sind, in
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