Nebelfront - Hinterm Deich Krimi
mir kaum
fähig, ein sorgsam gepflegtes Grab zu schänden, das er zuvor ja auch gehegt
hat.«
Große Jäger sah an Christoph vorbei durchs Fenster, dann verzog er
sich rasch in den hinteren Teil des Raums.
»Da kommt jemand«, sagte er.
Augenblicklich hing eine greifbare Spannung in der Luft. Auch
Christoph war in den Flur zurückgewichen. Sie hörten Schritte die Stufen zum
Windfang emporgehen. Dann herrschte einen Augenblick Stille, bis die Glocke
anschlug.
Die beiden Polizisten wagten es nicht, sich zu bewegen. Es vergingen
Sekunden der Anspannung, die sich zu Minuten dehnten. Noch einmal erklang die
Klingel. Erneut mussten sie bewegungslos verharren. Christoph war sich nicht
sicher, ob der Besucher die beiden Beamten als Schemen durch die
Riffelglasscheibe erkennen konnte. Dann war das Geräusch sich auf den Fliesen
drehender Absätze zu hören, bis jemand die Nase ausschnupfte. In diesen Laut
hinein mischten sich entfernende Schritte. Christoph atmete auf. Das Eindringen
in dieses Haus war unverantwortlich. Er schalt sich einen Narren, dass er dem Vorhaben
Große Jägers nicht mehr Widerstand entgegengesetzt hatte. Sie durften nicht nur
die Erkenntnisse, falls sie welche erlangen sollten, nicht verwerten, es hätte
auch unabsehbare Folgen, wenn man sie hier entdecken würde.
Auf Zehenspitzen schlichen sie ins Wohnzimmer und lugten von der Tür
aus durch die Scheibe. Am Gartenzaun tauchte ein älterer Mann auf, der sich
eine abgewetzte Aktenmappe unter den Arm geklemmt hatte. Er warf noch einen
letzten Blick auf Dr. Pferdekamps Haus, bevor er fortging. Große Jäger machte
rasch ein paar Schritte zum Fenster und sah dem Mann nach. Dann drehte er sich
zu Christoph um und lächelte befreit.
»Der geht von Haus zu Haus. Jetzt ist er beim Nachbarn.« Er sah
Christoph an, legte einen Finger auf die Lippen und murmelte: »Jetzt erspar dir
Erklärungen oder Vorwürfe.«
Mit einem Achselzucken folgte ihm Christoph über die ausgetretenen
Treppenstufen ins Obergeschoss. Hier setzte sich der düstere Eindruck, der
einen beim Betreten des Hauses befiel, fort. Was mochte Holger Kruschnicke
bewogen haben, hier über dreißig Jahre relativ abgeschieden zu leben? Christoph
teilte seine Gedanken Große Jäger mit.
»Es ist nicht verwunderlich, dass Kruschnicke an Depressionen
leidet. Die müssen sich zwangsläufig einstellen, wenn man das hier sieht.«
Dabei wanderte sein ausgestreckter Arm einmal im Halbkreis.
Sie warfen einen Blick in die vier kleinen Zimmer und das saubere,
aber altmodische Bad. Jeder der Männer hatte ein eigenes Schlafzimmer.
»Das sind Singleräume«, stellte Große Jäger fest. »Die haben also
nicht wie ein Ehepaar zusammengelebt.«
Ein Raum erweckte ihre besondere Aufmerksamkeit. Während
Kruschnickes Schlafraum sauber und aufgeräumt aussah und der zweite Raum
wirkte, als würde Dr. Pferdekamp am Ende des Tages in das bezogene Bett
steigen, war der dritte Raum spartanisch eingerichtet. Ein simpler Tisch, ein
Stuhl, mehrere windschiefe Regale und jede Menge Gärtnerutensilien standen
herum. Ohne Zweifel hatte Holger Kruschnicke hier nicht nur seine Fachliteratur
gelagert und studiert, sondern auch die Blumen umgetopft und umgepflanzt.
Sie beschlossen, sich zunächst im vierten Zimmer umzusehen. Es
musste Dr. Pferdekamps Arbeitszimmer gewesen sein. Auf der Platte des
schlichten Holzschreibtisches lag ebenso eine dichte Staubschicht wie auf der
Messinglampe. Die Schreibutensilien waren sauber in einer Federschale geordnet,
es gab sogar noch einen Tintenlöscher. Dafür fehlten Telefon und Computer. Vor
der Heizung stapelten sich Zeitungen.
»Deutsches Ärzteblatt«, las Christoph vor und staunte. »Pferdekamp
ist seit zweit Jahren tot. Wieso läuft das Abo immer noch? Hier«, dabei zeigte
er auf einen Stapel. »Das ist ganz aktuell.«
»Das ist ein rätselhafter Mensch, der Kruschnicke. Vielleicht hat er
es nicht auf die Reihe gebracht, zu kündigen«, meinte Große Jäger.
Die Wände waren mit Einbauschränken umbaut, hinter deren Glastüren
Fachbücher und sauber beschriftete Ordner standen. Die einfachen
Buntbartschlösser stellten für Große Jäger kein Hindernis dar. Die beiden
konzentrierten sich auf die Ordner. Christoph hatte einen mit der Aufschrift
»Persönlich« zur Hand genommen und sich auf dem Schreibtischsessel
niedergelassen. Chronologisch war der berufliche Werdegang des Arztes abgelegt.
Er winkte Große Jäger heran.
Dr. Pferdekamp hatte Abitur gemacht und dann in
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