Nebelfront - Hinterm Deich Krimi
Lernprozess
sein müssen. Seht, habe ich gesagt, das nächste Mal seid ihr vorsichtiger. Aber
der Schierling. Der hat sich sogar nachts um die Jungs gekümmert, wenn sie
Alpträume hatten. Dann hat er sie beruhigt.«
»Wie hat er die Kinder beruhigt?«
»Was weiß ich.« Sie war zornig geworden. »Ich hatte mein eigenes
Zimmer. Das gehörte nicht zu meinen Aufgaben. Außerdem waren das alles kleine
Verbrecher. Die hätten ordentlich Prügel beziehen müssen. Der Hohenhausen, der
war zwar nur Hausmeister, aber der hat das richtig gemacht. Wenn irgendeiner
von den Knaben gequast hat, dann setzte es etwas. Vor Hohenhausen hatten sie
Respekt. Wenn der auftauchte, war Ruhe.«
»Hat Wolfgang Hohenhausen die Kinder geschlagen? Gar misshandelt?«
»Geschlagen. Misshandelt. Was soll das heißen? Das war die einzige
Methode, um unter den kleinen Verbrechern für Zucht und Ordnung zu sorgen. Die
hätten doch sonst nicht pariert. Hohenhausen war ein Primitivling, aber
durchsetzungsstark.«
»Sie haben Hohenhausen trotzdem noch in jüngster Zeit besucht.«
»Er wohnte in der Nähe. Sonst spricht doch keiner mit einer alten
Frau. Das habe ich gerade noch geschafft mit meiner Gehhilfe.«
Damit war die Frage geklärt, wer die alte Frau mit der Gehhilfe war,
von deren gelegentlichem Besuch bei Hohenhausen die Nachbarn berichtet hatten,
dachte Christoph.
»Hat Schierling sich an den Kindern vergangen?«
»Vergangen? Das verstehe ich nicht.«
»Hat er die Jungen sexuell missbraucht?«
»Wie, sexuell missbraucht?«
Christoph seufzte. »Hat er mit den Kindern sexuell verkehrt?«
Sie fasste sich an den Kopf. Christoph kam die Geste trotz des
Alters zu theatralisch vor.
»Mir schwirrt der Kopf. Ich glaube, das Gespräch überanstrengt
mich.«
»Was ist mit Günter Steppujat passiert?«
»War das auch ein Erzieher?«
»Ein kleiner Junge, der 1969 spurlos verschwunden ist.«
»Die sind immer wieder einmal weggelaufen. Hohenhausen war oft
hinter irgendwelchen Ausreißern her und musste sie wieder einfangen. Dann gab
es eine Tracht Prügel, und sie bekamen verschärften Stubenarrest.«
»Was war das?«
»Die Burschen hatten Gelegenheit, zwei Tage in der Besenkammer über
ihr Verhalten nachzudenken. Schierling hat sie in der Zeit aufgesucht und
gefragt, ob sie ihr Fehlverhalten einsehen und Besserung geloben.«
»Sie sind nie eingeschritten?«
»Ich? Ich war Lehrerin. Es war schwierig genug, dem faulen Pack
Schreiben und Rechnen beizubringen. Die kamen ja alle aus Verhältnissen, in
denen es drunter und drüber ging. Die wussten nicht, was Disziplin bedeutet.
Das war bei denen erblich bedingt, dass sie das hier oben nicht drinhatten.«
Dabei tippte sie mit dem Finger gegen die Stirn.
Christoph überschlug kurz die Daten. Josefa Wendelstein war bei
Ausbruch des Zweiten Weltkriegs achtzehn Jahre alt gewesen.
»Sie haben Ihre Lehrerausbildung während des Krieges gemacht?«
»Das war eine harte Zeit. Aber wir haben gelernt, wie man mit
solchen Kindern umgeht. Das wusste ich schon, bevor ich zum Lehrerseminar
abgestellt wurde.«
»Abgestellt?« Christoph war hellhörig geworden.
»Man hat beim BDM schon früh meine
Fähigkeiten erkannt.«
»Sie waren während des Dritten Reichs aktiv im Bund Deutscher
Mädel?«
Sie tat, als hätte sie die Frage nicht gehört. Auch die Wiederholung
ignorierte sie standhaft.
Was war das für eine Melange, die in Tönning zusammengekommen war.
Entwurzelte Kinder aus zerrütteten Familien, in der Obhut eines vermeintlichen
Pädophilen, einem jähzornigen Schläger ausgesetzt, und eine Lehrerin, die gemäß
der Ideologie des Dritten Reichs über die Nöte der Kinder hinwegsah und ihre
Schützlinge für unterklassig hielt. Und niemand wollte etwas bemerkt haben?
»Noch einmal zu Günter Steppujat. Der ist 1969 spurlos verschwunden.
Die Polizei hat in diesem Fall ermittelt.«
»Ich kenne keinen Steppujat«, beharrte Josefa Wendelstein.
»Und Holger Kruschnicke?«
Sie legte beide Hände an die Schläfen und schloss die Augen. Dann
kicherte sie und schob dabei das Gebiss unentwegt hin und her. Schließlich
begann sie mit ihrer brüchigen Stimme kaum wahrnehmbar »Am Brunnen vor dem
Tore« zu singen.
Alle Versuche, sie davon abzubringen, scheiterten. Josefa
Wendelstein war nicht mehr ansprechbar. Sie reagierte auch nicht, als die
beiden Beamten aufstanden und gingen.
»Ist die Alte plemplem oder gerissen?«, stellte Große Jäger auf
dem Weg zum Auto die entscheidende Frage.
»Das
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