Nebelgrab (German Edition)
genug nach dem Professor gerufen. Dann war er einfach durch die Gartenpforte auf das Grundstück gegangen. Tief hängende Zweige eines Kastanienbaumes mit welken Blättern waren ihm ins Gesicht geschlagen. Er war wie selbstverständlich durch den Garten zum Haus gegangen. Die Terrassentür hatte trotz der Kälte offen gestanden.
Drinnen hatte er gerufen, dann gehört, wie eine Tür ging, und in der Annahme, es sei Konrad Wiedener, war Adrian einfach bis zum Arbeitszimmer weitergegangen. Hatte er seinen Namen gerufen? Hatte er gerufen: »Hier ist Adrian Seemann, der Zeitungsfritze!«? Oder hatte er nur »Hier ist der Zeitungsfritze!« gerufen?
Er wusste es nicht mehr.
Doch davon konnte sein Leben abhängen! Adrian fröstelte.
Mit dem vierten Kaffee in der Hand umrundete er immer wieder den Tisch, auf dem das Manuskript lag. Jener Stapel, den er einfach gegriffen hatte. Er konnte es nicht fassen. Und der Anblick von all dem Blut, dem skurril verdrehten Kopf des Mannes, ein Arm abgedreht, als sei er während des Sterbens in diese überaus merkwürdige Position gerutscht; als hätte er mit seinem letzten Lebenshauch versucht, sich seinem Mörder zu widersetzen – ein alter Mann gegen eine scharfe Waffe, gegen einen vermutlich körperlich überlegenen Menschen, gegen Skrupellosigkeit und Kaltblütigkeit. Es war eine entsetzliche Vorstellung und ein entsetzliches Bild! Wie hatte er, Adrian, nur so kühl sein und diese Dinge stehlen können? Nicht nur das Buch, auch der persönliche Kalender des Professors hatte den Besitzer gewechselt. Blitzschnell hatte es in Adrians Reportergehirn gerattert, als er den Stapel Papiere entdeckt hatte. Geheimnisse, Recherchen, Reportage … Informationen, Input …
Informationen hatte er nun, doch keinen Mut, sie zu entblößen, das oberste Blatt zu nehmen und zu schauen, was es darunter zu entdecken gab. War er jetzt auch ein Verbrecher? Hätte er für den alten Mann etwas tun können? Aber tot war tot. Unwiderruflich.
Er musste sich jetzt entscheiden, konnte sich nicht ewig mit Einkaufen und Joggen ablenken. Er war nun hier, das Manuskript war hier, die Zeit drängte. Und Karla drängte. Mehrere Male hatte sie versucht, ihn zu erreichen, hatte wissen wollen, ob er die Story schon geschrieben habe. Ts! Wenn die wüsste!
Karla … Karla … Er musste sie anrufen! Es war schon nach zwei Uhr in der Nacht, aber Adrian griff nach dem Telefon und drückte die Kennziffer für Karlas Nummer; wie er sie kannte, würde sie eine Samstagnacht um diese Zeit nicht zum Schlafen nutzen.
Nachts bei Karla
»Schütteln?« Der junge Mann stand mit nacktem Oberkörper im Türrahmen und hielt eine Flasche Champagner im Anschlag. Karla rekelte sich auf dem Sofa, zupfte sorgsam ihr Negligé zurecht, beobachtete mit zusammengekniffenen Augen ihre abendliche Eroberung und nickte. Sie löste ihr Haarband und lockerte die Haare. Auf einem Tischchen neben dem Sofa standen zwei Champagnerschalen, bereit, die Sünden der Nacht zu taufen.
»Mach schon! Ich warte nicht ewig«, gurrte sie dem Mann zu, dessen Alter sie um die Hälfte übertrumpfte. Es störte sie nicht, dass nebenan in ihrer Redaktion das Fax ansprang – das hatte Zeit bis zum nächsten Tag.
Der Mann schüttelte, der Korken knallte aus der Flasche und ein Champagnersegen ergoss sich über Karla und die Couch. Karla nahm die Gläser und hielt sie zum Einschenken bereit.
»Komm her, du ungezogener Bengel! Zeig endlich, was du drauf hast!«, forderte sie und schlürfte den prickelnden Trunk, während ihr Liebhaber begann, ihren Hals abzulecken.
Dann klingelte Karlas Handy. Der Mann seufzte. »Dein Mann?«
Er ließ Karla los, die sich ungeduldig nach dem Telefon reckte.
»Der hat nicht mal diese Nummer«, murmelte sie und sah auf dem Display »Adrian« stehen.
»Schatz, weißt du, wie spät es ist?«, fragte sie mit herrischem Ton.
»Ja«, antwortete Adrian, »aber deswegen rufe ich nicht an.«
»Adrian, ich bin beschäftigt! Verschon mich mit deinen Witzen! Was ist los?«
»Karla, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll … ich denke, dass ich die Story über den Professor nicht machen kann.«
»Wieso das denn nicht?« Karla setzte sich auf und schüttelte ihren Liebhaber, der seine Aktivität wieder aufgenommen hatte, unwillig ab.
»Der Mann ist tot.«
»Das hat sich schon rumgesprochen.«
»Dann weißt du ja auch, dass es kein Buch geben wird.«
»Adrian, gerade jetzt ist die Story brisant! Was steckt hinter dem
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