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Nebelgrab (German Edition)

Nebelgrab (German Edition)

Titel: Nebelgrab (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Klein
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überall Augen und Ohren.«

    »Na dann, wir sehen uns also bei der Beerdigung.
    Den Termin sag ich dir. Mach’s gut.«

    Nach dem Gespräch klingelte erneut das Telefon.
    An der Nummer erkannte Adrian, dass es Karla war. Ihre Stimme klang schrill, als sie etwas aufs Band sprach, was wie »Arsch hierher bewegen« und »Morde haben wir schließlich nicht alle Tage in Viersen« klang. Adrian schaltete das Aufzeichnungsgerät aus, nicht ohne so etwas wie Bewunderung für seine Chefin zu empfinden, die nach einer lebhaften Nacht so früh wieder auf den Beinen war. Danach läutete das Telefon im Zehn-Minuten-Takt. Adrian stellte es schließlich so leise, dass er sich nicht mehr gestört fühlte. Karla wollte eine Story? Dann sollte sie eine bekommen! Es war gut, das Geheimnis des Diebstahls nicht ausgeplaudert zu haben. Er griff nach dem Papierstapel und las zum bestimmt hundertsten Mal den Titel: »Der Schatz von Süchteln«. Dann nahm er langsam das oberste Blatt fort und seine Augen versanken im Text des ersten Kapitels:
    1944 Der Blick
    Niemand blieb verschont. Niemanden nahmen die Schrecken aus, die durch Bombenangriffe, Luftoffensiven und der daraus resultierenden Obdachlosigkeit, Schlaflosigkeit wegen allnächtlichen Fliegeralarms und die Todesnachrichten Hunderter Bürger in den nahen Großstädten Düsseldorf und Krefeld genährt und gezüchtet wurden. Die kleine Stadt Süchteln im Westen des Landes war Kriegsschauplatz geworden, und die Einwohner trugen ihr persönliches Schlachtfeld mit sich herum, sichtbar geworden in jedem Antlitz. Angst vor Verlust, Angst vor der Zukunft, Angst vor der Vergangenheit, sei es die eigene, die vielleicht möglich gemacht hatte, was nun geschah, sei es die des ganzen Landes. Allmählich zeigte sich der ganze Schrecken, geprägt in Gesichtern, Haltung und Stimmung. Nachdem auch hier die ersten Häuser zerstört worden waren, die ersten Bürger keine Bleibe und keinen Besitz mehr hatten, war die Erkenntnis gereift, schutzlos zu sein. Was nutzte es, in einem Ort nahe der Grenze, von Unwichtigkeit im weltpolitischen Geschehen fast gebrandmarkt, zu leben, wenn dieser Ort noch nicht einmal seine Einwohner in Bedeutungslosigkeit retten konnte.
    Lene wurde in diesen Wochen des Jahres 1944 erst richtig bewusst, was es hieß, in Kriegszeiten zu leben; die Bombennächte drohten nicht mehr zu enden, zusammenhängender Schlaf war eine kostbare Seltenheit geworden, und die ersten Menschen ihres Umfeldes waren auf direkte Weise zu Opfern dieser dunklen Zeit geworden. Mit dem Entwachsen der Kindheit nahm sie ihre Welt zunehmend mit gereiften Sinnen wahr und begriff, dass sie ihre Jugend und Energie zum Wohle vieler einsetzen konnte, sogar musste, wenn sie vor sich selber bestehen wollte.
    So hatte sie beschlossen, ihre Hilfe dem Mädchenpensionat der Franziskanerinnen in der Bergstraße anzubieten, die dort dankend angenommen wurde. Zum Pensionat hatte Lene eine persönliche Bindung durch ihren dortigen zweijährigen Schulbesuch. Ihre Mutter hatte gewollt, dass sie von den Franziskanerinnen unterrichtet wird, doch von staatlicher Seite hatte man den Religionsgemeinschaften die Unterrichtung der unter Achtzehnjährigen untersagt. Immerhin war es der Stadt geglückt, Räumlichkeiten im Pensionat für die Mittelschule anzumieten, in denen Rektor Kamper sich der Ausbildung der Kinder annahm.
    Als Lenes Mutter entschied, mit ihren jüngeren Kindern Süchteln zu verlassen und nicht mehr auf die Rückkehr des Mannes zu warten, fiel es ihr nicht leicht, dem Willen Lenes nachzugeben und die Siebzehnjährige hier zu lassen. Seitdem lebte Lene bei ihrer Tante Mathilde, ihrem Onkel Johannes und Cousin Hubert.
    Obwohl sie nicht mehr den Unterricht besuchte, ging sie noch immer jeden Tag zum Pensionat und hütete dort die Kindergartenkinder, die von ihren Müttern gebracht wurden. Die Zahl der Kinder schwankte ständig; so waren es zu Anfang des Jahres 1944 weniger gewesen als in jenem ersten Sommermonat. Mit dem Juniregen schien auch die Zahl der kleinen Besucher ständig zu wachsen. Die Schwestern im Pensionat hatten alle Hände voll zu tun, nicht nur für die Kindergartenkinder ein Heim auf Zeit zu schaffen, sondern all die Hilfesuchenden zu beherbergen, die sonst nirgendwo unterkamen. Mit Freuden hatten sie Lenes Angebot zu helfen angenommen und ihr den Teil der Kinder zugewiesen, die in der Baracke auf der Wiese wegen Platzmangels im Haus ihren Aufenthaltsort für die Vormittage gefunden

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