Nebelgrab (German Edition)
hatten.
Jenes Wiesenhaus hatte Lene mit den Schwestern und den Kindern wieder in Ordnung gebracht, nachdem es seit dem ersten Kriegsjahr vor sich hinrottete. Es war ein Überbleibsel der ersten Soldaten, die sich der Räume der Mädchenschule bemächtigt hatten und bei ihrem Abzug das Holzhaus hatten stehen lassen. Jetzt sang Lene dort unter den Obstbäumen mit den Kindern und versuchte Fliegeralarm und Luftminen zu erklären und deren Schrecken zu mindern; doch allzu oft gab es auch an Vormittagen Alarm, sodass sie mit allen Kindern den Obstkeller aufsuchen und bei Kerzenschein eine Geschichte nach der anderen erzählen musste.
Es war eine trostreiche Aufgabe, die sie übernommen hatte, denn wenn die Tränen fast nicht mehr unterdrückbar waren, sah sie in die rotwangigen Kindergesichter und verlor ein Stück ihrer eigenen Angst. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, nach jeder Entwarnung mit den Kindern in den Park hinter dem Haus zu gehen und vor der imposanten Statue des Schutzengels zu danken.
Die Statue bildete den Mittelpunkt der Gartenanlage. Sie sprachen ein Gebet, was selbst die Kleinsten mit Inbrunst taten, und dankten zum Schluss auch der Stadtpatronin Irmgardis, nach der das Pensionat benannt war. Man konnte nie zu viel danken. Und wenn der Dank nur dazu diente, den eigenen Vorrat an Hoffnung und Vertrauen aufzufüllen und sich nicht vom Mitleid mit all den grauen Gemütern auf der Bergstraße auffressen zu lassen.
Jene Beklagenswerten kamen zum Pensionat hinauf, um nach Asyl, Essen oder medizinischer Versorgung zu fragen. Viele Tote hatte man schon aus dem Haus hinausgetragen, viele Leiden gesehen, hatte stillschweigend dem Missbrauch des Hauses für militärische Zwecke zugesehen und nach Kräften alles Gute unterstützt, was man der Situation abgewinnen konnte. Unermüdlich eiferten die Schwestern ihrer Bestimmung nach und unermüdlich bewunderte Lene jene Haltung, die durch nichts zu erschüttern schien.
Sie kam immer pünktlich zu ihrem Dienst in dem stattlichen Bau, der auch in jenen schweren Zeiten beeindruckend und wohltuend sicher wirkte. Es war ein dreiflügeliges, im neogotischen Stil errichtetes Haus mit drei Geschossen und erhöhtem Souterrain. Wie ein U lag das Gebäude zur Straßenseite hin geschlossen und öffnete sich hinten zu einem Innenhof. Dort und zu den Seiten hin schloss sich die Gartenanlage an. An Größe und Masse konnte es kein Haus in der Umgebung mit der Höheren Töchterschule aufnehmen und das Mansard-Walmdach mit dem Türmchen der hauseigenen Kapelle im zweiten Stock war weithin sichtbar. Wenn Lene auch manchmal wie auf bleibeschwerten Beinen die Treppe zum Hauptportal hinaufging, so lag es nicht an diesem Gebäude oder ihrer Arbeit.
Sie ging meist vom Haus ihrer Tante aus am Tierpark vorbei und über den Lindenplatz Richtung Bergstraße. Bei jedem Wetter blieb sie am Tiergarten stehen und registrierte den Verfall, der von Tag zu Tag sichtbar fortschritt. Die Pflege der Vögel, des Wildes und der Nager wurde mit jedem Bombenschlag unwichtiger. Im benachbarten botanischen Garten explodierten keine Granaten, dafür aber das Unkraut umso mehr. Anfangs war Lene traurig über jenen Zustand; später begriff sie die Fokussierung auf das menschliche Wohlergehen.
Es gab Tage, die sie mit dem heimlichen Genuss amerikanischer Musik auf dem Grammophon ihres Onkels begann. Zusammen mit Cousin Hubert, der dieses Geheimnis teilte, rückte sie damit für Minuten in eine ferne, schimmernde Zukunft jenseits von Panzern, Soldaten, Politik und deren Gräuel. Ihr Traum von einem Leben ohne Sorgen, mit Wohlstand, Vergnügen, Tanz und Liebe schürte ihren Übermut. Sie neigte an solchen Tagen dazu, beschwingt durch Süchtelns Straßen zu gehen, was ihr zwar unpassend erschien, sie sich aber aufgrund ihrer 17 Jahre nicht nehmen lassen wollte. Dass die jungen Männer sie an solchen Tagen mit Wohlwollen und Begierde ansahen, nahm sie vergnügt zur Kenntnis und streckte dabei ihren schlanken Hals noch ein wenig mehr.
Angst dagegen machten ihr die ausgemergelten Fronturlauber, die sie mit hohlen Blicken aus eingefallenen Gesichtern heraus anstarrten. Männer dieser Stadt – nun waren es Fremde. Die Blicke hefteten sich wie Blei an Lenes Fersen, nahmen ihr die Beschwingtheit, was ihr Weitergehen zum mühsamen Unterfangen machte.
Doch es war ein Blick anderer Art, der sie am Morgen des 06. Juni erschrak – oder verunsicherte? Sie vermochte es selber lange nicht auszudrücken, was an
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