Nebelgrab (German Edition)
diesem Blick merkwürdig war, der sie streifte, als sie am Weberbrunnen, an jenem stummen Steinzeugen der glorreichen Weberzeit, im Zentrum des Städtchens stand und mit einer Nachbarin ihrer Tante sprach. Wie vom Throne Karls des Großen herab hütete der Weber stumm sein Handwerk. Ratternd fuhr eine Kutsche über das Kopfsteinpflaster, sodass die Nachbarin die Stimme heben musste, damit Lene sie verstand.
»Ach, Fräulein Lene, da wird sich die Tante aber freuen, dass wir wieder die Prozession übermorgen haben, nicht?«
»Ja, das wird sie, Frau Thelen, aber nicht nur sie; ich freue mich auch, dass unser Herr Pastor die Fronleichnamsprozession wieder durchführen kann. Ich habe gehört, dass extra vier neue Altäre an der Irmgardiskapelle aufgestellt werden. Dann haben wir wenigstens im Wald wieder ein Stückchen Normalität, nicht wahr?«
»Ja, Kind, so wird es sein.«
Die Kutsche war vorüber, doch der einsetzende Regen machte die weitere Konversation unangenehm. »Der Regen wird uns nicht stören, Hauptsache, es kommt kein Alarm«, sprach die Frau weiter und spannte ihren Schirm auf, der mehrere Mottenlöcher aufwies. Sie drehte ihn so, dass die Löcher nach hinten zeigten und der Regen nur ihren Rücken treffen konnte.
Lene sah auf die Kirchturmuhr und nahm die Hand zum Schutz vor dem Regen über die Augen. Als sie sie wieder sinken ließ, ging ein Soldat im Abstand von einigen Metern an ihr vorbei. Es war ein Deutscher, zumindest trug er eine deutsche Uniform, schmutzig, kaputt, mit durchlöcherten Stiefeln. Er schleppte einen Sack und eine kantige Tasche, bezogen mit grauem Stoff und einem Emblem in Form eines Adlers darauf. Der Mann, er mochte Mitte zwanzig sein, stellte seine Taschen ab, um sich eine Zigarette anzustecken, die er aus der Brusttasche seiner Uniform zog. Die Zigarette hatte in der Mitte einen Knick, den er umständlich zurückdrückte, wobei der Regen sein monotones Werk verrichtete und den Glimmstängel aufweichte. Mit Mühe schaffte der Soldat es, ihn anzuzünden. Er nahm einen Zug, hielt einen Moment lang den Rauch in der Lunge und atmete aus.
Er sah dem ausgestoßenen Rauch nach; sein Blick endete bei Lene. Es war kein Blick dieser hohlen Art, auch kein neugieriger oder sehnsuchtsvoller Blick. Nichts davon. Nichts drückten seine Augen aus. Seine wirren schwarzen Haare klebten schon an der Stirn, als er, die Zigarette im Mundwinkel, die Taschen wieder aufnahm und langsam Richtung Hochstraße weiterging.
Lene sah ihm nach, obwohl es unschicklich war, einem Mann nachzublicken, und hörte Frau Thelens Gruß nicht mehr. Sie nahm ein Kopftuch aus der Tasche, das ihr die Mutter zum Geburtstag geschenkt hatte – passend zu ihren braunen Haaren – und band es um. Noch immer starrte sie auf den Rücken des Fremden. Es war nichts Besonderes gewesen an diesem Mann, und doch spürte sie eine Bedrohung tief in ihrem Inneren.
1944 Das Vermächtnis
In der Nacht zum 07. Juni war eine Luftmine in der Krefelder Straße eingeschlagen und hatte nicht nur am Explosionsort, sondern auch im Umkreis von hundert Metern ihre Zerstörungskraft entfaltet. Lene und Hubert hatten seit den frühen Morgenstunden geholfen, Verletzte zu bergen. Da das Krankenhaus schwer beschädigt war, hatte man die leicht Verletzten auf der Straße versorgt und die anderen in die intakten Häuser der Nachbarschaft und zum Pensionat gebracht. Als Lene dort ihren Dienst antrat, war sie erschöpft, schmutzig und der Verzweiflung nahe. Sie wusste nicht, wie viel Elend sie noch ertragen konnte. Solche Nächte wie die vergangene ließen sie an allem zweifeln, was ihr vorher Stärke gegeben hatte. Sie wusste zwar, dass Süchteln im Vergleich zu Viersen, der direkten Nachbarstadt, bisher glimpflich davongekommen war, aber das war bloß ein Trost der hohlen Worte. Wenn man die Zerstörung leibhaftig miterleben musste, war es subjektiv zweitrangig, ob es selten oder oft vorkam.
Schließlich half die Gegenwart der Kinder, zur Besinnung zu kommen und sich auf die jeweils anstehende Stunde zu konzentrieren. Es war Krieg, und Pläne, die über die nächste Stunde hinausgingen, schienen ihr plötzlich aberwitzig und vergeudete Zeit zu sein. Jederzeit musste sie mit den Sirenen rechnen, die alle Aktivitäten zum Erliegen brachten und sie zum Aufenthalt im verhassten Keller zwangen, wenn sie ihr Leben und das der Kinder schützen wollte. Manchmal drohte die Sinnlosigkeit des Krieges wie ein Prügel auf sie einzuschlagen; die Angst um den
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