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Nebelgrab (German Edition)

Nebelgrab (German Edition)

Titel: Nebelgrab (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Klein
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Habseligkeiten der Familie zugestellt würde. Warum eigentlich nicht? Der Bruder, für den die Tasche bestimmt war, gehörte schließlich zur Familie. Doch sie zögerte. Der Soldat hatte das selber gewusst und dennoch darum gebeten, die Tasche persönlich dem Bruder zu übergeben. Das musste einen Grund haben. Was konnte es schaden, sich den Bruder einmal aus der Nähe anzusehen? Sie war im Vorteil, da der Fremde nicht wusste, dass sie im Besitz der Tasche war. Vielleicht sollte sie doch einmal einen Blick hineinwagen …? Doch der Soldat hatte es nicht gewollt.
    »Was hast du denn da?« Schwester Maria zeigte auf die Tasche.
    »Ach nichts, nur eine Tasche, die ich der Tante bringen soll.« Lüge, das war eine Lüge, und das gleich nach den Gebeten! Sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, und hoffte, dass die Ordensfrau nichts bemerkte. Im rechten Moment wurde die Schwester von einem Patienten abgelenkt. Erleichtert murmelte Lene einen Abschiedsgruß.
    Sie ging die Bergstraße hinunter, ohne ein weiteres Mal auf die Fußfälle zu blicken oder den vorbeieilenden Menschen Beachtung zu schenken. Sie hoffte, unbehelligt nach Hause zu kommen; ihr innerer Aufruhr verhalf ihr zum schnellen Schritt, den sie sich sonst bei diesen endlich frühsommerlichen Sonnenstrahlen verboten hätte. Sie fiel nicht auf, denn die Menschen erledigten während der unbekannten Dauer der Entwarnung rasch, was zu erledigen war.
    Seit am vorigen Tag der Beginn der alliierten Invasion gemeldet worden war, wuchs die Furcht vor einem wiederholten deutschen Aufbäumen unausgesprochen, aber stetig. So viele Familien hatten ihre Väter und Söhne verloren; so viele Menschen hatten ihr Zuhause verloren. Die Angst, es könnte Süchteln genauso ergehen wie den Nachbarstädten, war groß und wurde von jenen geschürt, die leibhaftig erlebt hatten, wie das Maß der Zerstörung um sich griff.
    Hinter vorgehaltenen Händen wurde die Sinnlosigkeit thematisiert und jeder, der noch einen gesunden Sohn zu Hause hatte, betete inbrünstig und im Geheimen um ein schnelles Ende der Kriegsaktivitäten. Doch selbst die, die man nicht hatte ziehen wollen, wurden nach und nach in die Wehrertüchtigungslager beordert und mussten sich unter Tränen und mit unbeschreiblicher Angst im Gepäck ihrem Schicksal stellen.
    Vor dem kleinen Backsteinhaus der Tante lehnte Hubert an der geöffneten Pforte und hielt einen Schwatz mit Sophie, einer gemeinsamen Freundin.
    »Da bist du ja«, rief er und nahm sie betont überschwänglich in die Arme. Lene drückte ihn von sich, schob die Tasche durch den Spalt der Haustür in den Flur und trat zurück auf den Vorgartenweg.
    »Habt ihr nichts zu tun?«, fragte sie mürrischer als beabsichtigt. Sophie und Hubert sahen sich erstaunt an.
    »Oh, die Dame ist schlecht gelaunt«, scherzte ihr Cousin und humpelte einmal um sie herum. Er war einer derjenigen, die dem Krieg nicht an der Front dienen mussten. Durch einen Unfall in der Kindheit war sein rechtes Bein steif geblieben und rettete ihm nun möglicherweise das Leben. Lange hatte er mit seinem Schicksal gehadert und in lautstarken Wutanfällen seinen Depressionen Luft gemacht, weil er ebenso wie seine Freunde als stattlicher Soldat in die Fremde hatte ziehen wollen. Doch Hubert schien mittlerweile erkannt zu haben, dass nicht er Neid empfinden sollte, sondern die anderen. Als temperamentvoller, junger Mann machte er aus seiner ursprünglichen Not eine Tugend und nutzte den Mangel an Männern aus, indem er jedem Rock hinterherlief. Er verlor spontan das Interesse an seiner schlecht gelaunten Cousine, um sich mit zwinkernden Augen der adretten Freundin Sophie zuzuwenden.
    »Was meinst du, schönes Fräulein, wirst du mit mir tanzen gehen, wenn der ganze Spuk vorbei ist?« Er lehnte sich an die Gartenmauer und beobachtete spitzbübisch Sophies Reaktionen.
    Das Mädchen lachte und sagte scherzend: »Du kennst kein Tabu, nicht wahr?« Doch bevor er darauf antworten konnte, wandte sich Sophie ihrer Freundin zu. »Was hast du denn da so schnell versteckt, Lene?«
    Lene kratzte sich kurz hinter dem Ohr und versuchte mit freundlichem Tonfall eine Gesprächswendung. »Habt ihr schon gehört? Die Engländer wollen sich hier längerfristig niederlassen. Man munkelt, dass sie die Heilanstalt als Hauptquartier nutzen wollen.«
    »Das ist sehr interessant, aber beantwortet nicht meine Frage.« Sophie trat mit unverhohlener Neugier auf die Haustür zu, die immer noch einen Spalt weit offen stand. »Was

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