Nebelgrab (German Edition)
Tasche. Er keuchte, richtete sich aber etwas auf.
»Die Tasche – nehmen Sie die Tasche!«
»Ich kann doch nicht …«
»Nehmen Sie die Tasche und geben Sie sie meinem Bruder! Er kommt morgen in die Stadt.«
»Hören Sie, ich kann nicht einfach Ihre …«
Er unterbrach sie erneut. Schweiß rann ihm von der Stirn in die Augen. »Es ist wichtig. Sie und ich wissen, dass ich keine Chance habe, hier lebend rauszukommen, bitte – mein Bruder muss diese Tasche bekommen! Sie sehen ehrlich aus. Helfen Sie mir!«
Der dunkle Blick, inzwischen glasig geworden, machte ihr Angst, und nur um der Situation zu entkommen, nickte sie und griff nach der kantigen Tasche.
»Sehen Sie nicht hinein, geben Sie sie nur ab.«
Lene nickte wieder. Erschöpft lehnte sich der Soldat zurück. Das Rasseln in seinem Atem war stärker geworden. Lene blickte sich nach Hilfe um, doch von den Schwestern war niemand mehr im Raum. Auch war der Arzt wohl noch nicht im Haus. Karl richtete sich erneut schwerfällig auf und sagte ihr leise den Ort und den Zeitpunkt des vereinbarten Treffens.
»Ich nehme die Tasche in Verwahrung, versprochen, aber Sie können sie sicher selber Ihrem Bruder geben. Ich komme dann morgen wieder«, sagte sie unsicher. Sie fühlte, wie das Gewicht der kantigen Tasche unangenehm an ihren Armen zog, und entfernte sich aus dem Schlafsaal.
Sie nahm sich vor, der ersten Ordensschwester, der sie auf dem Weg nach draußen begegnete, die Tasche in die Hand zu drücken. Doch die Gänge waren wie ausgestorben. Hauchdünner Kaffeegeruch zog durch das Pensionat, das war eine Sensation! Die Schwestern hatten sich demnach alle in der Küche eingefunden. Lene ging langsam die breite Treppe hinunter und zögerte im Souterrain. Die Tasche wog schwer, der Weg bis nach Hause könnte mühsam werden …
1944 Die Entscheidung
»Oh, Jesus, der du im Übermaß deiner Liebe und um unsere Hartherzigkeit zu überwinden einen Gnadenstrom über diejenigen ergießest, welche dein heiligstes Leiden im Garten Gethsemane betrachten und die Andacht zu demselben fördern, ich bitte dich, hilf meiner Seele und meinem Herzen oft, doch wenigstens einmal am Tag, an deine allerbitterste Todesangst im Ölgarten zu denken, um dich zu bemitleiden und mich mit dir so viel als möglich zu vereinen.«
Lene kniete vor dem Pensionat am Fußfall, die Tasche mit dem Adler auf dem grauen Stoff neben sich. Oft betete sie hier, um sich keine Mahnung von den Ordensschwestern anhören zu müssen, wusste sie doch, dass man ihr mit Blicken aus den Fenstern des Gebäudes manches Mal folgte, wie zur Bestätigung ihrer religiösen Entwicklung.
Schräg vor dem Haus befand sich einer der sieben Fußfälle, die den Wallfahrtsweg zur Kapelle der heiligen Irmgard oben im Wald markierten. Früher hatte Lene die Bauern manchmal an deren Rückseite die Sensen schärfen sehen und dann war eine der Schwestern schimpfend darauf zugelaufen, um diesen Frevel zu unterbinden. Als Kind hatte sie das immer lustig gefunden, doch wenn die Schwestern sie entdeckt hatten, war sie schnell auf die Knie gefallen, um ein Gebet zu sprechen. Dann musste sie jedes Mal bei der Beichte gestehen, dass sie nicht ernsthaft und andächtig genug zum lieben Herrgott gesprochen hatte.
An jenem Tag jedoch war ihr nach innigem Beten zumute. Sie wusste, dass dieser Karl nicht mehr lange zu leben hatte; es schmerzte sie zu sehen, wie ein junges Leben zu Staub zerfiel und vom Wind davongetragen wurde. Es schmerzte sie auch, dass sie für etwas in die Verantwortung genommen wurde, was sie nicht kannte und nicht einschätzen konnte. Der dunkle Blick des Verletzten schien sich an die Tasche geheftet zu haben, und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sicherheitshalber betete sie noch ein »Gegrüßet seist du, Maria« und das »Vaterunser«. Als sie geendet hatte, war sie ein wenig ruhiger, aber immer noch ratlos. Langsam stand sie auf, ergriff die Tasche und blieb unentschlossen stehen. Sie blickte auf das über dreißig Jahre alte Gemäuer und entschied sich, die Last doch wieder zurückzubringen.
»Er ist vorhin gestorben«, sagte Schwester Maria, »du musst gerade weg gewesen sein. Vermutlich hat eine Rippe seine Lunge durchbohrt. – Kanntest du ihn?«
Lene schüttelte den Kopf und starrte auf das weiße Laken, unter dem sich der Körper des toten, unbekannten Karl abzeichnete, dessen Tasche sie mit klammer Hand festhielt. Nun konnte sie sie einfach wieder unters Bett schieben, damit sie mit den restlichen
Weitere Kostenlose Bücher