Nebelgrab (German Edition)
hielt mit Mühe Schritt, was mit seinem steifen Bein nicht leicht war. Unterwegs versuchte er, seine Cousine von ihrem Vorhaben abzubringen.
Es war nur noch etwa eine Dreiviertelstunde Zeit, bevor der vermeintliche Bruder dieses geheimnisvollen Karls zum Treffpunkt am Weberbrunnen erscheinen würde. Hubert hatte längst mit einem Bekannten gesprochen, der ihm den dringenden Rat gegeben hatte, die Fundstücke einem Antiquitätenhändler in Düsseldorf anzubieten. Zuvor sollten die Gegenstände jedoch geschätzt werden. In der Frage könne ein Professor bemüht werden, der sich auf dem Gebiet gut auskannte.
Doch Hubert wusste, dass, egal wie Lene und er sich entscheiden würden, zu jenen Zeiten solche Geschäfte nur auf dem Schwarzmarkt möglich waren. Es war heikel, sehr heikel. Es ging nicht nur um Geld, sondern um viel mehr. Sie würden kriminell werden – andererseits hätten sie für die Zeit nach dem Krieg ausgesorgt. Finanziell. Doch was nutzte Geld, wenn nichts zu essen vorhanden war?
Hubert war sehr verwirrt, und dass seine Cousine massiv auf ihn einredete, verwirrte ihn noch mehr. Lene glaubte immer noch an Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit, dabei hatte sie selber gesagt, wie unheimlich ihr dieser Soldat erschienen war.
»Wir wissen doch gar nichts über diese Menschen, außer dass wir deren Eigentum im Kohlenkeller versteckt haben«, wisperte sie Hubert zu, denn gerade gingen einige Leute in unmittelbarer Nähe vorbei.
Die beiden näherten sich dem Lindenplatz und verlangsamten ihren Schritt. Hubert seufzte erleichtert auf. Solche Gewaltmärsche taten seinen Muskeln nicht gut. Hubert nahm Lene das Päckchen der Mutter aus dem Arm und sie gingen schweigend auf die Apotheke zu. Sie blickten sich aufmerksam um, doch konnten sie niemanden entdecken, der wie ein wartender Fremder aussah. Es war noch zu früh. Vor der Apotheke trafen sie auf Sophie.
Sie sah die beiden erschrocken an und fragte: »Habt ihr ihn schon getroffen?«
»Nein«, knurrte Hubert und mahnte sie, leise zu sein. »Wir wollen ihn uns aus der Ferne ansehen und dann entscheiden, ob wir ihn ansprechen«, antwortete er, bevor Lene etwas sagen konnte.
»Das ist eine gute Idee«, stimmte Sophie zu, »ich werde von dort drüben beobachten.« Sie zwinkerte verschwörerisch und ging mit schlenkernden Armen auf die andere Seite des Platzes.
»So, wir schauen erst mal, wie?«
Lene nahm das Päckchen mit einem Ruck wieder an sich und betrat die Apotheke. Nach unsäglich langen 20 Minuten, in denen sie das Geschwätz der Apothekerfrau hatte ertragen müssen, bevor sie endlich entlohnt worden war, war sie wieder draußen.
Hubert, der bis dahin gelangweilt vor dem Eingang an der Fassade gelehnt hatte, packte sie am Arm und bedeutete ihr, nichts zu sagen. Er blickte unverwandt zum Brunnen und ging ganz langsam mit Lene am Arm auf den Treffpunkt zu, wo ein Mann in langem Mantel und mit dunklem Hut stand und von einem anderen Mann in Lederjacke, ebenfalls mit Hut, angesprochen wurde.
Regen setzte ein. Die Menschen hoben ihre Regenschirme und spannten sie auf. Für einen Moment war die Sicht auf die beiden Männer versperrt.
Da! Jetzt konnten Lene und Hubert wieder sehen. Die beiden Fremden waren in Streit geraten. Die Gestik war eindeutig; der Wind riss Wortfragmente von ihren Mündern. Wieder schoben sich Süchtelner, die es eilig hatten, aus dem Regen zu kommen, zwischen Hubert und Lene und die Männer.
Endlich wieder freie Sicht: Der Mann im langen Mantel lag zusammengesackt vor dem Brunnen; der andere war nicht mehr zu sehen. Weit voraus konnte er kurz vor Erreichen der Ecke zur Hindenburgstraße ausgemacht werden. Der Mann lief, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Die jungen Beckers kamen langsam näher und reihten sich in die Riege der Neugierigen, die sich um den Fremden am Boden geschart hatten. Jemand fühlte nach dem Puls des Mannes. Der Regen tropfte vom Hut des Leblosen auf dessen Brust, durchnässte den Mantel, lief rasch in kleinen Rinnsalen vom Körper auf die Kopfsteine und vermischte sich dort mit flüssigem Rot. Eine Frau schrie auf. Der Passant, der seine Finger immer noch am Hals des Unbekannten hielt, zuckte zurück, sah erschrocken auf die Erde und drehte den Körper dann vorsichtig um. Im Rücken des Fremden steckte ein Messer.
Als Lene das sah, fasste sie Hubert so fest am Arm, dass dieser fast aufschrie. Doch der Schrecken hatte sich in Windeseile auch seiner bemächtigt.
»Lass uns gehen, Lene, wir können nichts tun.«
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