Nebelgrab (German Edition)
suchen!«
»Das ist Blödsinn, Herr Joosten, verkaufen Sie mich nicht für dumm! Sie hatten in Frau Schüttlers Wohnung nichts verloren. Und hören Sie mit dem Quatsch auf von wegen Brille – Frau Schüttler hatte ihre Brille auf der Nase. Sie sind ein Lügner, und wenn ich herausbekomme, dass Sie nicht nur lügen, sondern auch stehlen oder gar zu noch Schlimmerem fähig sind, dann Gnade Ihnen Gott!«
Ein Geräusch vom Aufzug ließ die Frau zusammenzucken. Sie zog den Pfleger tiefer in den Gang hinein, dorthin, wo sich die Büros der Verwaltung und Heimleitung befanden.
Adrian wurde es für Sekunden schwindlig; die
Frau wusste offensichtlich etwas, hatte aber die Polizei nicht informiert.
Er blieb noch einen Moment lang stehen und trat schließlich mit lauten Schritten von der Treppe auf den Gang, folgte der Richtung, in die die beiden Streitenden gegangen waren, und las an der vierten Tür im Verwaltungsgang das Schild »Heimleitung – Marie Lorenz«. Doch zu lauschen gab es nichts mehr. Anscheinend hatten sie ihr Gespräch beendet. Adrians Puls sagte mit Nachdruck, dass es Zeit war, dieses Haus zu verlassen, und vor allen Dingen Zeit, in den Briefumschlag zu sehen. Adrian fühlte, dass er von Kopf bis Fuß völlig angespannt war.
Er ging nach draußen. Die kalte Novemberluft klärte seinen Kopf ein wenig, auch wenn er voller Fragen war. Seine Muskeln entspannten sich wieder. Fragen riefen nach Antworten, nicht nur, was den Mörder und das Motiv angingen, sondern auch wegen seiner eigenen Rolle in diesem grausigen Theater. Er hatte sich schon strafbar gemacht durch seine Handlungen. War die Story das wert? War er es seiner Tante schuldig, Recherchen anzustellen? Sollte er nicht lieber der Polizei von seinen zufälligen Informationen erzählen? Ging es noch darum, Interessen zu schaffen, Menschen einen sauberen Artikel zu liefern, oder war da schon Eitelkeit mit im Spiel?
Adrian ging Richtung Parkplatz, aber nicht zu seinem Auto, sondern weiter in die Gartenanlage. Kalte Nässe lag auf den braunen Heckenpflanzen, die den Rosengarten umschlossen. Ein paar Kinder kamen ihm mit Martinsfackeln in der Hand entgegen. Sie summten ein Lied, das er lange nicht gehört hatte.
»In der Irmgardisstadt, da weht der Wind so kalt, vom hohen Berg herab, vom hohen Wald.«
Im Rund angelegt war der Rosengarten eine Oase am Rande der Parkanlage. Im Sommer blühten hier sorgsam gepflegte Blumen, im Winter gähnte die Ruhe der Natur den einsamen Besucher an. Adrian zog den Reißverschluss seines Parkas bis oben hin zu, warf einen Blick auf die in einiger Entfernung stehende Statue des Schutzengels und betrat den Rosengarten. Mit dem Bild einer Schar Kinder vor seinem inneren Auge, die von einer 17jährigen Lene behütet werden, fromm und inbrünstig dem Engel dankend, dass der Alarm wieder vorbei war, setzte er sich auf die einzige, verwitterte Bank. Mit zitternden Händen holte er den braunen Umschlag aus seinem Rucksack. Ein Blick genügte, und sein Herzschlag zog wieder an.
1944 Zwei Tage bis zur Prozession
»Morgen ist Fronleichnam, Hubert! Wie kannst du so reden?« Lene war über ihren Cousin empört. Sie sprach leise, obwohl sie ihn am liebsten angeschrien hätte.
Hubert wollte die Fundstücke einem Freund geben, der sie verkaufen sollte. Lene war das nicht recht. Sie flüsterte fast, damit Huberts Eltern nicht aufmerksam wurden: »Lass uns abwarten, was dieser Bruder sagt.«
»Nein! Am besten vergessen wir den Bruder, der womöglich gar nicht der Bruder ist. Vermutlich sind das Verbrecher, die sich am Heiligtum unserer Stadt schadlos halten möchten.«
»Ach, und was hast du vor?« Lene bohrte ihren Zeigefinger in Huberts Brust. »Du willst auch bloß Geld aus der Geschichte herausholen. Du hast selber gesagt, dass die Inschrift an den Festen Süchtelns rütteln würde, sollte sie bekannt werden!«
Von unten drang der Ruf der Tante herauf, die Lene für einen Botengang brauchte. Mit bösem Blick verabschiedete sie sich von Hubert.
»Ja, Tante Mathilde, ich komme!« Und zu Hubert gewandt: »Und ich gehe doch zum Treffpunkt; deine Mutter schickt mich sowieso in die Stadt!«
»Nein! – Dann … dann komme ich wenigstens mit. Wer weiß, was das für ein Bursche ist.«
Lene ging zügig Richtung Stadtmitte, wo sie beim Apotheker eine Näharbeit der Tante abgeben sollte. Manchmal bat die Tante ihre Nichte um einen solchen Gefallen, und Lene war froh, sich auf mehrere Arten im Haus nützlich machen zu können. Hubert
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