Nebelgrab (German Edition)
»Aber – meinst du nicht, wir sollten uns nach dem Namen des Mannes erkundigen?«
»Warum? Um uns verdächtig zu machen? Nein, Unauffälligkeit ist der beste Schutz. Das wird unser Kontaktmann sein. Ich meine, das war unser Kontaktmann; Ort und Zeit stimmen, dieser Karl war nur nicht der einzige, der von dem Treffen wusste. Die Sache ist größer, als wir gedacht haben.«
Am frühen Abend trafen sich die Freunde erneut im Hause der Beckers. Sophie, immer noch blass von den Erlebnissen am Lindenplatz, sagte nichts, sondern hörte den anderen nur zu.
»Wir sollten die Sachen einfach verstecken und niemandem davon erzählen«, sagte Lene und schien zu nichts anderem mehr bereit zu sein. Sie saß mit verschränkten Armen auf einem Stuhl und sah ihre Freunde fast böse an.
»Du bist voreilig, Lene. Ich denke immer noch, dass ich meinen Freund bitten sollte, die Schmuckstücke auf ihre Echtheit überprüfen zu lassen.«
»Hast du nicht gesehen, was heute passiert ist?«, fauchte Lene. »Es ist ein Mann getötet worden! Wir könnten alle getötet werden, wenn jemand erfährt, dass wir die Dinge in unserem Besitz haben!«
»Deswegen will ich sie loswerden.« Hubert lächelte vorsichtig. »Wir können ein wenig an der Sache verdienen.«
»Und was ist mit dem Pergament? Du hast selbst gesagt, dass die Wirkung auf unsere Stadt enorm sein könnte. Es darf nicht bekannt werden, was die Schrift bedeutet! Und morgen ist Fronleichnam. Vielleicht würden die Menschen hier den einzigen Trost verlieren, den sie in diesen Zeiten haben. Du weißt, was die heilige Irmgard uns bedeutet!« Lenes Blick änderte sich nicht.
»Glaubt ihr wirklich, die heilige Irmgard hat …«
»Nie und nimmer!«, unterbrach Lene die Frage, die Martha auf der Seele brannte. »Und niemals wieder dürfen wir darüber reden! Außer uns darf niemand davon erfahren!« Sie sah die anderen beschwörend an. »Und jetzt seht zu, dass ihr vor dem nächsten Alarm nach Hause kommt. Betet zu Gott, dass wir morgen einen schönen Feiertag haben.«
Als Sophie und Martha fort waren, sah Hubert Lene mit schiefem Grinsen an.
»Was ist mit dir?«, fragte Lene, der Böses schwante.
Hubert nestelte an seinem Kragen herum und fuhr sich dann mit der Hand über die Stirn. »Nun ja, es ist so, dass noch jemand außer uns von dieser Sache weiß.«
»Wie bitte?«
»Ich habe mit meinem Freund Konrad gesprochen.«
»Was hast du ihm erzählt?«
»Alles.«
»Alles?«
»Ja, alles. Er ist absolut integer. Das kannst du mir glauben.«
»Und wenn er auch schon jemandem davon erzählt hat?« Lene fasste sich an den Kopf. »Was, wenn dadurch erst der Mann mit dem Messer aufgetaucht ist?«
Hubert stutzte. »Das glaube ich nicht. Konrad weiß, dass die Sache geheim ist.«
»Das wusstest du auch!« Lene drehte sich weg, um zu gehen, besann sich aber kurz und sah Hubert streng an: »Schaff die Tasche an einen sicheren Ort! Wenn der Krieg vorbei ist, werden wir sehen, was damit geschieht.«
»Willst du denn gar nicht wissen, ob die Gegenstände echt sind?«
Statt zu antworten, verließ sie mit eisigem Blick das Zimmer.
8. Juni 1944
Lene hatte nicht gut geschlafen. Neben den schon üblichen Schrecksekunden und Ängsten hatten sie Träume geplagt. Der Schädel aus der Tasche hatte ihr die ganze Nacht im Kopf herumgespukt, dazu die geheimnisvolle Gestalt der heiligen Irmgard und viele Verletzte, die zu Lene kamen, während sie den Kindern Lieder vorsang.
Hubert hatte mit seiner Frage nach der Herkunft der Gegenstände ihre Neugierde erneut angestachelt. Neugierde war es, die sie dazu gebracht hatte, die Tasche mit nach Hause zu nehmen. Neugierde war es, die sie die Tasche hatte öffnen lassen, und nun traute sie sich nicht, die nächsten Schritte zu unternehmen.
War es erst zwei Tage zuvor gewesen, dass diese unheimlichen Dinge in ihr Leben gekommen waren? Warum nur war sie nicht sofort nach Beenden ihres Dienstes nach Hause gegangen? Dann hätte sie diesen Karl nie kennengelernt! Und stünde jetzt nicht vor Entscheidungen, denen sie sich nicht gewachsen fühlte. Sie könnte natürlich alles in die Hände ihres Cousins legen, aber Hubert war oft so unvernünftig und impulsiv.
Lene rieb sich kurz die Augen und stand auf. Sie bemerkte einen dünnen Faden Sonnenschein auf dem Fußboden, der sich zwischen den dicken Vorhängen hineinmogelte. Und tatsächlich schien die Sonne. Draußen war es ruhig. Mit viel Glück konnte Süchteln die Prozession ohne Alarm
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