Nebelgrab (German Edition)
wird. Wenn sie jetzt noch Panzergräben ausheben, dann heißt das, dass auch gekämpft wird, und dann brauchen sie jeden Mann.«
»Aber dafür müssen sie mich an den Waffen ausbilden, das braucht Zeit. Vielleicht …«
»Nein, Hubert, sie werden dich alsbald mit allem vertraut machen, was du wissen musst, um in den Tod zu gehen. So viele sind auf den Schlachtfeldern geblieben – selbst Kinder holen sie, um diese Gräben auszuheben …«
Der Rest erstarb in leisem Weinen. Huberts Vater legte einen Arm um seine Frau. Lene und Hubert sahen sich betroffen an. Alle wussten, dass die Tante recht hatte.
»Wo ist die Tasche, Hubert? Und wer war das heute Morgen im Wald?«
Lene flüsterte. Eigentlich hätte sie längst in ihrer Kammer sein müssen, aber da Hubert sich am nächsten Morgen in aller Frühe zum Schanzeinsatz melden musste, war dies die letzte Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Hubert hatte tagelang den Befehl verschwiegen. Nun blieb nicht mehr viel Zeit.
»Die Tasche ist im Wald im Irmgardispöttsche. Wir haben sie gut versteckt; Konrad hat mir geholfen. Keine Angst, er ist zuverlässig. Ich habe ihn nur einen Blick auf das Pektoral werfen lassen, und er wird uns jemanden vermitteln, der es überprüft. – Du brauchst nicht so zu zweifeln! Wir lassen die Tasche versteckt, bis ich wiederkomme, und wenn niemand mehr an die Fremden gestern in der Stadt denkt, holen wir die Tasche aus der Irmgardisquelle hervor und bemühen den Professor, den Konrad persönlich kennt. Und dann entscheiden wir, ob die Dinge einem Juwelier oder einem Museum angeboten werden.«
»Oder unserer Gemeinde«, warf Lene ein, »vergiss nicht, dass es um das Leben unserer Irmgard geht!« »Aber wir wissen doch gar nicht, ob …«
»Und genau das werde ich noch herausfinden!«
Lene verschränkte die Arme und schürzte die Lippen.
»In Ordnung, Cousinchen, du findest heraus, wie die Gegenstände zu Irmgards Leben passen, und ich passe auf, dass ich mit dem Leben davonkomme, sollte ich wirklich zum Kampfeinsatz gezogen werden.«
»Meinst du denn wirklich, dass das Versteck an der Quelle sicher ist? Es gehen regelmäßig die alten Weiber dorthin, um zu beten.«
»Vertrau mir! Die Tasche ist in dem kleinen Gewölbe nicht zu sehen, und da alle sehr viel Ehrfurcht vor der Quelle an der Kapelle haben, wird niemand mit einer Kerze dort hineinleuchten.«
»Und du meinst, unsere heilige Irmgard hat nichts dagegen?«
»Gerade unser Irmchen sollte dankbar für dieses Versteck sein.« Hubert zwinkerte kurz.
»Ach, Hubert, komm gesund zurück!«
Hubert grinste. »Ja, das wäre schön, dann müsste ich nicht mehr humpeln.«
Lene umarmte ihren Cousin und dachte daran, wie tapfer er sein Schicksal trug, auch wenn sein Gesicht seinen Tonfall Lügen strafte. Seinen Zügen war die Angst anzusehen.
Zu Anfang des Krieges war es für ihn fast eine Schande gewesen, untauglich für die Reichswehr zu sein, dabei hatten ihm die schmucken Soldaten so gut gefallen. Besonders neidisch war er auf deren Wirkung auf die Mädchen gewesen. Wie oft hatte er sein Bein verflucht! Doch irgendwann war an die Stelle des Neides und des Haderns die Erleichterung getreten, nicht offen ausgesprochen, aber intensiv gefühlt. Fast war es eine Art Dankbarkeit für den Pferdetritt, der sein Bein damals lahmgelegt hatte. Er war elf Jahre alt gewesen, als er in den Radius eines sich aufbäumenden Pferdes gelangt war. Der Tritt an sich wäre verheilt; die anschließende Entzündung jedoch hatte etwas in seinem Bein irreversibel zerstört. Sein Kniegelenk war steif geblieben. Das passte nicht zu einem Soldaten.
Doch zu jenem Zeitpunkt wurden die letzten Reserven aktiviert. An Kindern und Krüppeln wurde sich schadlos gehalten. Und mit dem Graben fing es an.
Lene ließ Hubert los, unterdrückte die Tränen und ging in ihr Zimmer.
Wo ist Lene?
Mit klammen Fingern packte Adrian die Seiten des Manuskriptes wieder ein. Wie sollte er an die weiteren Kapitel kommen? Ohne Material, ohne Hintergründe konnte er Karla keine Story liefern. Er musste weitersuchen, das war klar. Wind kam auf, und er fröstelte. Der Gedanke an das aufgeteilte Manuskript machte ihn rastlos. Anscheinend hatte Wiedener allen Beteiligten ein paar Kapitel zukommen lassen, bis er – ja, bis wann? Warum hatte er das gemacht? Wollte er das Buch veröffentlichen oder nicht? Warum die Pressemitteilung? Adrian stand auf und ging nachdenklich zur Bergstraße zurück. Hubert Becker würde auch Post bekommen
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