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Nebelriss

Nebelriss

Titel: Nebelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markolf Hoffmann
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sprechen nachts ein Gebet für den Schlangengott?
    Langsam ließ Baniter die Hand in die Tasche seines Gewandes gleiten und zog eine Schriftrolle hervor. Es war eine Nachricht von Jundala; Sentschake hatte sie ihm am Morgen überbracht. Auf dem Siegel prangte der ganatische Luchs, ein unverkennbarer Abdruck der Fürstenkette, die nun Jundala um den Hals trug. Das Siegel war ungebrochen; die Arphater hatten offenbar der Versuchung widerstanden, einen verstohlenen Blick auf das Schriftstück zu werfen.
    Baniter hatte die Botschaft nicht sofort gelesen. Er hatte auf einen unbeobachteten Augenblick gewartet, und dieser schien nun gekommen. Vorsichtig brach er das Siegel und entrollte das Schriftstück. Hastig überflog er die Zeilen, die in Jundalas geschwungener, verschnörkelter Handschrift geschrieben waren. Ein Lächeln ging über seine Lippen. Selbst wenn es die Arphater gewagt hätten, die Schriftrolle zu öffnen, hätte ihr Inhalt sie wohl ratlos zurückgelassen. Denn was Jundala ihm schrieb, schien kaum mehr als belangloses Geplänkel zu sein. »Geliebter Gemahl«, so begann der Brief, »seit einigen Tagen befinde ich mich nun in Thax, der Hauptstadt unseres Reiches! Doch wie trostlos ist mein Aufenthalt an diesem Ort, wenn ich weiß, dass du, Geliebter, in der Fremde weilst.« In diesem Stil setzte das Schreiben sich fort; Elegien der Sehnsucht, die sich zur Verheißung rauschhafter Liebesnächte steigerten, sollte Baniter in die Arme seiner Gattin zurückkehren. »Mit heißen Tränen erwarte ich dich«, so schloss der Brief, »Deine sich nach dir verzehrende Jundala!«
    Jedem ahnungslosen Leser musste der Brief als das liebestrunkene Gestammel einer ihrem Ehemann rettungslos verfallenen Frau erscheinen; die wahre Botschaft aber bliebe seinen Augen verborgen. Denn die kunstvollen Schnörkel und Verzierungen, die sich an die Wörter schmiegten, die winzigen Striche und Bögen, welche die geschwungenen Buchstaben umtanzten - sie enthielten den eigentlichen Sinn des Briefes. Es waren die geheimen Zeichen der Luchsschrift, die nur die engsten Angehörigen der Familie Geneder zu lesen vermochten. Seit vielen Jahrhunderten wurde die Luchsschrift von den Genedern verwendet, um bedeutende Familiengeheimnisse vor fremden Augen zu schützen. Baniter hatte sie einst von seinem Vater Gadon erlernt. Seit Gadons Tod gab es nur noch sechs Personen, die das Geheimnis der Schrift kannten; jene, die Gadon unterrichtet hatte - Baniter und seine Mutter Hjele, sein Onkel Orusit und dessen Frau Mirna -, sowie jene, die ihre Kenntnis von Baniter erworben hatten, Jundala Geneder und Sinsala, die älteste Tochter des Fürsten. Es war eine hohe Kunst, Nachrichten in der Luchsschrift zu verfassen; mit feinen Federstrichen mussten die Zeichen so gesetzt werden, dass sie dem unwissenden Leser als harmlose Verzierungen erschienen. Noch schwieriger war das Deuten der verschlüsselten Botschaft, denn stets bezogen sich die geheimen Zeichen auf einzelne Worte oder Buchstaben des offensichtlichen Textes. Gerade dieser Zusammenhang zwischen dem scheinbaren und dem verborgenen Sinn eines Briefes machte das Erlernen der Luchsschrift so schwer. Jundala hatte mehrere Jahre dafür gebraucht. Sinsala hingegen, Baniters Tochter, hatte sich als ausgesprochen talentiert darin erwiesen. Sie konnte in wenigen Minuten einen Brief mit den Geheimzeichen versehen, wo Baniter Stunden benötigte, und sie beherrschte die Verschmelzung der beiden Schriftebenen in wahrer Vollendung.
In ihrem Scharfsinn übertrifft sie sowohl Jundala als auch mich,
dachte Baniter voller Stolz.
Sinsala wird sich als eine würdige Nachfolgerin erweisen
-
und die Fürstenkette um ihren Hals wird jene des vereinigten Ganata sein!
    Baniter schob den Gedanken an seine Tochter fort und konzentrierte sich auf die Entschlüsselung der Luchszeichen. Es dauerte eine Weile, bis sich ihm der Sinn der geheimen Botschaft erschloss, und was er las, war Besorgnis erregend. Jundala schrieb, dass die Lage in Thax sich zum Schlechten verändert habe. Der Streit im Thronrat habe sich dramatisch zugespitzt und stünde kurz vor dem Ausbruch. Zudem hielte ein Volksaufstand die Stadt in Atem, hervorgerufen durch ein wundersames Ereignis, auf das Jundala nicht näher einging. Auch in den Fürstentümern sei eine Rebellion ausgebrochen; empörte Grafen und Barone hätten sich vom Kaiser losgesagt, seit dieser überraschend die Adeligen seines Hofes fortgeschickt habe. Akendor sei wie verwandelt; er regiere

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