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Nebelriss

Nebelriss

Titel: Nebelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markolf Hoffmann
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rauschenden Festen der Arphater gehört.
Wenn die Arphater feiern,
so hatte seine Mutter ihm einst erzählt,
fließt Wein und Blut in Strömen.
Als Kind hatte ihn das stark beeindruckt; vergeblich hatte er versucht, sich ein solches Fest vorzustellen. Nun, da er Zeuge der Har'buthi-Zeremonie wurde, kamen ihm die Worte seiner Mutter wiederum in den Sinn.
    Tausende von Menschen hatten sich zum Nesfer begeben, sich an seinen Ufern und auf der Insel inmitten des Stromes versammelt. Manche waren in den Fluss herabgestiegen; sie standen im brackigen Wasser zwischen Schilf und Farn oder ließen sich von der Strömung treiben. Die Luft war erfüllt von ihren Stimmen, und hätte Baniter nicht gewusst, dass ein Fest begangen wurde, hätte er aus dem ohrenbetäubenden Geschrei, dem Jammern, dem Weinen geschlossen, dass eine panische Menschenmasse sich voller Angst zusammengerottet hatte. Doch es war keine Furcht -es war religiöser Wahn, der die Menschen erfasst hatte. Baniter erspähte einen Mann, der in seiner Hand ein Messer hielt, mit dem er sich die entblößte Brust geöffnet hatte. Blut rann aus der Wunde, rann an der Klinge des Messers herab; und der Wahnsinnige leckte es mit der Zunge auf, bis roter Speichel aus beiden Mundwinkeln lief. Unweit davon war eine Frau zu sehen, auch sie nackt, Arme und Körper blutig gerissen von den eigenen Fingernägeln. Und dort, im Wasser, stand ein junges Mädchen, das sich den linken Arm von der Schulter bis zum Handknöchel aufgeschlitzt hatte. Mit den Fingern seiner rechten Hand fuhr es der breiten Wunde nach, und das schmutzige Flusswasser spülte das Blut aus ihrem Körper. Aus ihrem Mund gellten Schreie innigster Verzückung.
    »Der Nester tränkt die Felder von Praa, doch einmal im Jahr tränken die Menschen den Fluss«, wisperte Mestor Ulba dem Fürsten zu. »Aus ihrem Blut wird das Wasser für die nächste Ernte geboren.«
    Sie standen auf einer Erhöhung am Ufer des nördlichen Flussarmes. Von hier aus hatten sie eine hervorragende Sicht auf die Zeremonie. Unmittelbar vor ihnen schwamm ein Floß, von dem aus die Götter ihre Opfergaben in Empfang nehmen sollten. Mächtige Ketten hielten es in seiner Position. In der Mitte brannte in einer Schale, die von zwei kräftigen Sklaven emporgehalten wurde, ein heiliges Feuer. Ringsumher hatten sich zahlreiche Priester versammelt. Baniter erkannte die orangefarbenen Roben der Geweihten des Agihor, die goldenen Mäntel der Diener des Totengottes Kubeth und die grünen Hauben der Mönche des Balah-Sej, Gott des Gesetzes. Die meisten Gewänder aber waren ihm unbekannt.
So viele Priester, so viele Götter … falls dieses Floß kentert, steckt die arphatische Religion in einer tiefen Krise.
    Baniter warf einen Seitenblick auf den großen Ejo. Der Anführer der Anub-Ejan stand dicht neben ihm, umringt von sieben Ordensbrüdern. Sie trugen ihre grellgelben Gewänder und schwarzen Kappen; ihre grünen Säbel blinkten im Sonnenlicht. Statt die Zeremonie zu beobachten, starrten sie mit reglosen Gesichtern auf die Gesandten. Baniter fragte sich, warum nicht die Bena-Sajif, sondern die Anub Ejan sie zum Ufer eskortiert hatten - die Leibwächter und Scharfrichter der Königin.
    Die Opferzeremonie zog sich mehrere Stunden hin. Immer wieder schallten Trompetenklänge vom Floß herab und ließen die Schreie der aufgewühlten Menge für einige Momente verstummen. Dann war die dunkle Stimme des Agihor-Priesters Sentschake zu hören, der mit düsteren liturgischen Gesängen den Wahn der Menschen noch anzustacheln schien. Die Worte seines Gebetes waren Baniter fremd; als er Mestor Ulba nach ihrem Sinn fragte, erklärte der Siegelmeister ihm, dass Sentschakes Gebet in der arphatischen Hochsprache verfasst war. »Sie wird nur noch von den Priestern gesprochen«, raunte Ulba. »Im einfachen Volk ist sie längst verklungen und durch die candacarische Sprache ersetzt worden.«
    Auf dem Floß wurde nun ein Käfig nach vorn gezerrt. In ihm erkannte man die ausgemergelten Leiber zweier Sklaven, eines Mannes und einer Frau. Sie klammerten sich an die Gitterstäbe; ihre Augen waren vor Entsetzen geweitet. Als die Priester den Käfig an den Rand des Floßes brachten, begann der Mann wie wild an den Stäben seines Gefängnisses zu rütteln. Baniter hörte ihn verzweifelt nach Gnade rufen. Doch sein Flehen war vergeblich; schon machten sich die Priester daran, den Käfig ins Wasser abzusenken.
    »Der Fluss nimmt ihre Seelen auf«, wisperte Mestor Ulba. »Es heißt,

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