Nebelriss
eigenmächtig am Silbernen Kreis vorbei. Zudem plane der Kaiser, sich mit seiner Mätresse Ceyla Illiandrin zu vermählen.
Entsetzt ließ Baniter das Schriftstück sinken.
Kaum bin ich für einige Tage fort, lässt das ›Gespann‹ die Zügel der Macht schleifen.
Besonders die letzte Botschaft versetzte ihn in Aufregung.
Will Akendor ein zweites Mal denselben Fehler begehen? Er kann unmöglich die Tochter eines einfachen Ritters zur Kaiserin machen!
Nervös schloss Baniter die Augen.
Sadouter Suant hat trotz all seiner Dämlichkeit in einem Punkt Recht: Mir läuft die Zeit davon! Inthara muss mich endlich empfangen! Wie kann ich dieser eitlen Königin bloß den Ernst der Lage vor Augen führen? Diesem Priester traue ich nicht über den Weg; alles, was ich der Königin durch Sentschakes Mund übermittle, erreicht ihr Ohr mit einem falschen Klang! Nein, es muss einen anderen Weg geben!
Er dachte angestrengt nach.
Das Fest! Wenn dieses Har'buthi-Fest tatsächlich von so großer Bedeutung ist, kann es Inthara sich nicht erlauben, abwesend zu sein. Sie würde dadurch die Götter erzürnen - oder jene Teile der Priesterschaft, die an sie glauben.
Er blickte zu der Statue des Norfes empor.
Wer würde ernsthaft den Zorn eines solchen Gottes herausfordern? Und Norfes scheint mir noch der harmloseste Vertreter des arphatischen Pantheons zu sein. Nein, Inthara wird es nicht wagen, dem Har'buthi-Fest fern zu bleiben! Sie wird anwesend sein … vielleicht verhüllt, um das Märchen von der angeblichen Gazellenjagd aufrechtzuerhalten. Vielleicht will sie mich auf dem Fest beobachten, einen Blick auf mein Gesicht werfen, ohne dass ich von ihrer Anwesenheit weiß. Warum sonst wurden wir ausdrücklich eingeladen, an der Zeremonie teilzunehmen? Sie scheint diese Spielchen zu lieben, die gottgleiche Königin. Doch wer der beste Spieler ist, wird sich noch zeigen.
Ein Plan reifte in seinem Kopf, und mit jähem Tatendrang sprang er von dem Kissen auf und eilte zum Ende der Tempelhalle. Er hastete die steinerne Treppe zum nächsten Stockwerk empor. Mit wenigen Schritten nahm er die Stufen, stürzte in den dunklen Gang und eilte zielstrebig auf die letzte Tür zu. Sie stand offen. Mit einem höflichen Räuspern machte Baniter sich bemerkbar. Dann trat er ein.
In dem prächtig geschmückten Raum hockte auf einem samtschwarzen Kissen Lyndolin Sintiguren. Sie trug ein einfaches weißes Gewand; ihre drahtigen grauen Haare hatte sie hochgesteckt. Vor ihr lag eine zerschlissene, lederne Sternkarte. Mit dem dürren Zeigefinger der rechten Hand fuhr die alte Frau die blassen Linien nach, die sich über die Karte zogen. Ihre Lippen formten leise Worte. Offenbar hatte sie das Räuspern des Fürsten überhört.
Vorsichtig sah Baniter Geneder sich um. Er entdeckte in der Ecke des Raumes, gebettet auf einem Seidentuch, Lyndolins Harfe. Sie war aus goldfarbenem Holz; die Saiten hoben sich deutlich von dem hellen Tuch ab. Langsam schlich sich Baniter zu dem Instrument, beugte sich herab und fuhr mit dem Finger über die Saiten. Ein weicher Laut erklang, und Lyndolin Sintiguren blickte erschrocken auf.
»Fürst Baniter!« Sie nahm ihre Hand von der Karte. »Ich habe Euch nicht eintreten hören!« »Ihr wart zu sehr in den Lauf der Sterne vertieft«, antwortete Baniter lächelnd. »Habt Ihr mein Kommen nicht vorausgeahnt? Wie kann man jemanden überraschen, der in die Zukunft blicken kann?«
Lyndolin war deutlich aufgeblüht, seit sie in Praa eingetroffen waren. Schon nach wenigen Tagen war von ihrer Erschöpfung nichts mehr zu spüren gewesen. Voller Begeisterung hatte sie sich unter die arphatischen Priester gemischt, die in den Tempel geeilt waren, um die berühmte Dichterin zu sehen. Vor allem der feiste AgihorPriester Sentschake hatte stundenlange Gespräche mit Lyndolin geführt. Obwohl Baniter keinen Grund hatte, argwöhnisch zu sein, beunruhigte ihn die Verehrung, die der Dichterin entgegengebracht wurde. Er konnte nur hoffen, dass Lyndolin sich an seine Worte hielt und sich nicht zu unbedachten Prophezeiungen hinreißen ließ. Denn eines war gewiss: Die Arphater würden jedes ihrer Worte auf die Goldwaage legen.
Lyndolin erhob sich. »Wart es nicht Ihr, der mir untersagte, in die Zukunft zu blicken?« Sie hielt die Sternkarte empor. »Ich weiß, Ihr haltet nichts von der Kunst der Sterndeutung, obwohl sie Euch hier in Praa gute Dienste leisten könnte. Dies ist die Sternkarte des Cladimor, eines großen Wahrsagers und Zauberers aus Kathyga.
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