Nebelriss
Vor vielen Jahrhunderten hat Cladimor den Himmel beobachtet; seine Berechnungen lassen auch heute noch erstaunliche Deutungen zu. Anhand dieser Sternkarte vermag man präzise Angaben über den Lauf des Schicksals zu treffen. Schon mehrmals wurde ich von den arphatischen Priestern gebeten, ihr Schicksal in den Sternen zu lesen. Doch da Ihr es mir verboten habt, musste ich sie schweren Herzens zurückweisen.«
»Und Ihr tatet gut daran«, sagte Baniter. »Wozu einem frommen Priester das Schicksal vorhersagen, das dieser in die Hände seiner Gottheit gelegt hat? Wollt Ihr die Arphater vom rechten Pfad des Glaubens abbringen?« »Das könnte ich ebenso wenig, wie Euch vom Pfad des Spötters abzubringen.« Lyndolin Sintiguren schritt langsam auf ihn zu. Sie hinkte ein wenig; während der Reise hatte sie ihr linkes Knie ausgerenkt, und seitdem wollte das Gelenk nicht mehr heilen. »Wie lange werdet Ihr auf ihm wandeln, bis Ihr erkennt, dass er von Eurem Ziel fortführt?«
»Solange ich untätig im Tempel herumsitze, erscheint mir dieser Pfad der einzig richtige«, sagte Baniter. »Auch heute gibt sich die Königin wieder abwesend! Mit ihren Jagdkünsten kann es nicht weit her sein, wenn sie innerhalb von zwei Wochen keine Gazelle erlegen konnte. Vielleicht hätte sie sich zuvor von der großen Lyndolin Sintiguren ihr Jagdglück voraussagen lassen sollen.«
Die Sterndeuterin blickte Baniter aus ihren unergründlichen Augen an. »Hättet Ihr mir denn erlaubt, der Königin zu prophezeien, dass ihre Jagd vergeblich sein wird?«
Der Fürst schüttelte den Kopf. »Mein Wort gilt nach wie vor: keine Prophezeiungen, keine Sterndeuterei!« Er brachte erneut die Saiten der Harfe zum Schwingen. »Legt deshalb Eure Sternkarte aus der Hand und greift stattdessen zur Harfe. So erweist Ihr unserer Gesandtschaft einen besseren Dienst.«
Das Gesicht der alten Frau blieb unverändert. »Ich wusste nicht, dass Ihr ein Freund meines Harfenspiels seid. Wollt Ihr, dass ich Euch ein Lied spiele?«
Baniter nahm die Harfe vorsichtig auf. »Nicht mir dem arphatischen Volk!« Er reichte Lyndolin das Instrument. »In ein paar Stunden findet am Ufer des Nesfer ein heiliges Fest statt: die Har'buthi-Zeremonie, mit der man in Praa den Winter begrüßt, sofern man in diesem Land von einem Winter sprechen kann. Wäre es nicht ein großer Akt der Freundschaft, wenn die berühmte Lyndolin Sintiguren anlässlich dieses hohen Festes eine Ballade zum Besten gäbe?«
Lyndolin nahm die Harfe an sich. »Ich bin überzeugt, dass die Arphater daran Gefallen fänden«, gab sie zu. »Seine Hochwürden Sentschake bat mich bereits, vor den Geweihten zu spielen.«
»Dann bietet sich heute die beste Gelegenheit dafür«, rief Baniter hocherfreut. »Die gesamte Priesterschaft wird anwesend sein.«
Lyndolin Sintiguren umschloss die Harfe mit beiden Händen. Ihre faltigen Finger fuhren sanft über das helle Holz des Rahmens. »Und welche Ballade haltet Ihr für diesen Anlass geeignet?«
Baniter lächelte.
Kluges Mädchen!
»Ihr solltet den Priestern Eure ganze Kunstfertigkeit unter Beweis stellen. Warum gebt Ihr nicht einfach eine eigene Dichtung zum Besten - ein Lied, das eigens für dieses Fest geschrieben wurde?« Er hielt kurz inne. »Das könnt Ihr doch, nicht wahr - ein Lied erdichten?«
Falls Lyndolin Sintiguren überrascht war, konnte sie dies fabelhaft verbergen. »Selbstverständlich, Baniter Geneder. Doch das benötigt mehr als ein paar Stunden! Eine solche Dichtung braucht seine Zeit.« »Oh, ich werde Euch zur Hand gehen«, sagte Baniter lächelnd. »Wie Ihr wisst, stamme ich aus einer musikalischen Familie. Meine Mutter hat mich lange Jahre in der Bardenkunst unterwiesen - die sie von Euch erlernte, Lyndolin! Gemeinsam sollten wir in Windeseile ein passendes Lied erdichten können. Ich habe sogar schon eine Idee, was den Inhalt betrifft …«
Sie blickte ihn zweifelnd an. »Die Worte eines Liedes wollen sorgfältig gewählt sein. Ich hoffe, Ihr wisst, dass eine unbedachte Zeile den Sinn einer ganzen Ballade verändern kann, und wo eine Rede schnell vergessen ist, bleibt ein Lied lange im Gedächtnis. Überlegt Euch gut, Baniter Geneder, ob mein Gesang die richtige Form für Euer Anliegen ist.«
Baniter nickte entschlossen. »Meine Stimme verhallt seit elf Tagen ungehört in diesem Tempel. Eurer aber wird man lauschen, davon bin ich überzeugt.«
Und es werden meine Worte sein, die Ihr auf der Zunge führt.
Baniter hatte schon eine Menge von den
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