Nebelriss
letzte Mal sein, dass die Weißstirne gegen sie anrennen. Beim nächsten Mal werden sie nicht mehr verhandeln wollen!« »Es ist der Junge, den sie wollen«, sagte Rumos mit ruhiger Stimme, »der Junge, der dank deiner Unfähigkeit nach Arnos flüchten konnte, in die schützenden Arme seines Herrn und Meisters.« Er warf Balicor einen herablassenden Blick zu. »Du hättest ihn im Tempel festhalten müssen.«
»Konnte ich ahnen, dass ihn die Masse kurz darauf zum Heiligen ausruft?« Bars Balicor rückte sich wütend den Kragen seines Gewands zurecht. »Ein Wunder, so hieß es plötzlich, ein Zeichen Tathrils - doch da war Nhordukael schon fort, um sich bei dem elenden Greis zu verstecken.«
Ashnada verstand nur wenig von dem Gespräch der beiden Zauberer, doch eines war offensichtlich: Rumos und Balicor hatten sich gegen den Hohepriester verschworen, und sie warteten auf seinen Tod, um in den Besitz der magischen Quelle zu gelangen. Was aber hatte dieser Nhordukael damit zu tun? Ashnada hatte ihn nur wenige Male gesehen, einen zwanzigjährigen, unscheinbaren Mann mit vernarbtem Gesicht, der stetige Schatten des Hohepriesters und diesem bedingungslos ergeben. Dass ausgerechnet dieser bleiche Priester der ›Auserkorene‹ sein sollte, der am Tag der Ernte das Wunder von Thax vollbracht hatte, wollte Ashnada nicht in den Kopf.
Er taugt nicht zu einem Heiligen, das sieht man auf den ersten Blick.
»Noch immer wissen wir nicht, was es mit diesem Ereignis auf sich hat«, sagte Rumos. »Die Überreste der Kreatur hat bedauerlicherweise die Stadtgarde an sich gebracht. Ein Goldei sei es gewesen, so wird behauptet; andere wollen ein sehr viel größeres Wesen gesehen haben.«
»Glaubst du, der Einarmige war tatsächlich ein Zauberer der Solcata, wie er vor dem Volk behauptete?« Zweifel lagen in Balicors Stimme. »Hat sich an diesem Tag etwa doch ein Wunder ereignet?«
Rumos blickte ihn verachtend an. »Dass der Junge von heißer Bronze Übergossen wurde und dennoch überlebte - nicht ohne nebenbei ein Untier zu töten und ein kleines Kind zu retten -, klingt für mich eher nach einem Märchen denn nach einem Wunder Tathrils! Es muss ein übler Trick dahinter stecken, eine Täuschung, die von der Menge zum Wunder verklärt wurde.«
Balicor dachte angestrengt nach. »Kein Zauber wäre so mächtig, einen Menschen vor der Hitze glühender Bronze zu bewahren. Zinn und Kupfer gehören zu den heiligen Metallen, in denen sich die Sphäre bricht.« »Die Bathaquar hat ähnliche Wunder vollbracht, als sie über das Auge der Glut herrschte«, gab Rumos zurück. »Hitze und Glut und Feuer, dies sind die Kräfte, die unter dem Berg Arnos wallen. Was am Tag der Ernte geschah, klingt verdächtig nach dem Werk eines Zauberers, der mit diesen Kräften vertraut ist.« »Ihr glaubt, dass Magro Fargh dahintersteckt?« Ungläubig starrte der Erzprior Rumos an. »Aber aus welchem Grunde?«
»Eben das müssen wir herausfinden«, erwiderte Rumos. »Es wird Zeit, dass du nach Arnos reitest und dem Hohepriester einen Besuch am Sterbebett abstattest!«
»Er wird mich nicht zu sich lassen«, sagte Bars Balicor missmutig. »Fargh hasst mich! Er hat mich in all den Jahren nur empfangen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Ich bin nicht der Nachfolger, den er sich wünscht.« »Wer wünscht sich schon eine solche Ratte wie dich zum Nachfolger«, höhnte Rumos. »Tu, was ich dir sage, und reite nach Arnos. Heute wird Magro Fargh dich empfangen.« Er rückte dicht an den Erzprior heran. »Richte ihm die Worte der Prophezeiung aus. Der Rosenstock trägt keine Blüten mehr …«
…
und Mondschlund schweigt,
ergänzte Ashnada in Gedanken.
Bars Balicor winkte ab. »Du kennst den Hohepriester schlecht, wenn du glaubst, ihn mit ein paar netten Wörtern einschüchtern zu können.«
»Es sind mehr als ein paar nette Wörter«, schrie Rumos. Er packte Bars Balicor an seiner Kutte und schüttelte ihn drohend. »Dein Hohepriester wird sich ihrer schon entsinnen, selbst wenn sein Geist in den letzten Zügen liegt!« Seine Hand krallte sich in Balicors Umhang fest, und Ashnada sah voller Entsetzen, wie der Stoff zwischen den Fingern Feuer fing.
»Lass mich los!«, keuchte Balicor und versuchte sich zu befreien.
»Wage es nicht, mich zu erzürnen«, brüllte Rumos. Mit beiden Händen umfasste er Balicors Kutte; der Gestank verglühenden Leinenstoffs breitete sich aus. Doch urplötzlich ließ Rumos von dem Erzprior ab und wandte sich Ashnada zu. Sie hatte
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