Nebelriss
entschlüsseln, bedarf es eines scharfsinnigen Geistes, der mit Geheimschriften vertraut ist. Nur Ihr, der kaiserliche Siegelmeister, hättet das Brief Siegel fälschen und die Luchsschrift entziffern können! Ihr verrietet Euch selbst, als Ihr in meinem Schlafgemach von dem Prozess gegen die Klippenritter spracht, der in Thax eingeleitet wurde. Dies konntet Ihr nur Jundalas Brief entnommen haben. Von diesem Moment an wusste ich, dass Ihr die Luchsschrift lesen könnt, auch wenn ich nicht begreife, von wem Ihr sie erlernt habt.« Er schüttelte voller Unverständnis den Kopf. »Warum wolltet Ihr Inthara vergiften - ausgerechnet Ihr, der Arphat so liebt und bewundert?«
»Ihr habt kein Recht, auf mich herabzusehen, Baniter Geneder«, stieß der Siegelmeister hervor. »Ihr seid nicht besser als die anderen Fürsten des Silbernen Kreises: ein Krämer, der seine Hände zur Macht ausstreckt! Jahrzehntelang sah ich dem Treiben des Thronrates zu, den Machtspielen, den Lügen und Intrigen. Sithar ist ein verkommenes, traditionsloses Reich, ein Sklavenstaat, der nie zu wahrer Größe aufsteigen wird.« Verachtung lag in seiner Stimme. »Denkt Ihr, ich weiß nicht, warum unsere Gesandtschaft nach Praa aufbrach? Das Bündnis gegen die Goldei ist nichts als ein Vorwand, um Arphat zu zerschlagen und zu einem Teil des Kaiserreiches zu machen. Oh, nicht dass ich etwas dagegen einzuwenden hätte! Das heutige Arphat ist im Inneren verfault; es ergötzt sich am verblassenden Glanz seiner Geschichte. Längst hat das Volk vergessen, dass es einst die Welt beherrschte, dass seine Feinde einst vor Arphats Heeren erzitterten! Es schmäht die eigene Tradition und lässt sich von den einstigen Sklaven an der Nase herumführen.« Sein Blick wanderte zu Inthara hinüber. »Sollte ich mit ansehen, wie die Tochter des Sonnengottes die Ehre des arphatischen Volks verkauft und sich Sithar unterwirft? Eine wahre Königin hätte unsere Gesandtschaft am ersten Tag davongejagt und ihr geballtes Heer gegen die Echsen ins Feld geführt! Eine wahre Königin beugt nicht ihr Haupt, selbst wenn es Arphats Untergang bedeutet! Nein, Arphat darf nicht zu einer sitharischen Provinz herabsinken. Es ist besser, wenn es in einem Meer von Blut untergeht! Inthara ist die letzte Tochter des Sonnengottes, und sie ist kinderlos. Stirbt sie, ist Arphats Ende besiegelt. Es soll sich selbst zerreißen und in Trümmer fallen, sodass nichts zurückbleibt als die Erinnerung an seine ruhmvolle Geschichte!« Baniter schüttelte den Kopf. »Mir ist unbegreiflich, wie Ihr in all den Jahren, die Ihr Siegelmeister am kaiserlichen Hof wart, Euren krankhaften Wahn verbergen konntet.«
Mestor Ulba stieß ein bösartiges Lachen aus. »Ihr selbst seid der Wahnsinnige, der das Blut des Sonnengottes mit dem schwächlichen Krämerkaiser Akendor verbinden will! Das nenne ich Wahn! Das nenne ich krankhafte Schändung!«
Baniter trat einen Schritt zurück. »Es wird Zeit, dass der Blasse Sand Euch von Euren wirren Gedanken erlöst.« Er blickte Sentschake an, der das Gespräch der Sitharer schweigend mitverfolgt hatte. »Ich habe diesem Mörder nichts mehr zu sagen.«
»Ihr seid nicht besser als ich!«, schrie Mestor Ulba hasserfüllt. »Ich weiß es, Baniter Geneder! Ich habe Eure Briefe gelesen … Ihr seid nicht besser als ich!«
Zwei Anub-Ejan-Mönche schritten auf den Siegelmeister zu und rissen ihm das Seidentuch vom Leib, sodass er vollkommen nackt war. Er leistete keinen Widerstand, als sie ihn über den Rand des Abhanges auf die Sandfläche stießen. Er rollte sich auf dem Boden ab und blieb mit dem Rücken im Sand liegen. Sein Blick wanderte zu Baniter empor.
»Ihr werdet mich nicht schreien hören«, zischte er.
Das wird sich zeigen,
dachte Baniter.
Es begann langsam, entsetzlich langsam. Ulba winkelte den rechten Arm an und starrte auf seinen Ellenbogen. Dort, wo die Haut den Sand berührt hatte, war eine weiße Verfärbung zu sehen, ein Ausschlag, der sich rasch ausbreitete. Ulba presste die linke Hand auf die Wunde. Sein Kiefer versteifte sich; er versuchte, seinen Schmerz nicht zu zeigen. Doch es gelang ihm nicht, die Hand still zu halten. Nach kurzer Zeit begannen seine Fingernägel an der Stelle zu kratzen. Die Blasen sprangen auf, und eine milchige Flüssigkeit quoll hervor. Der Siegelmeister stöhnte auf. Auch an seinen Beinen waren nun Wunden zu erkennen, an seiner Schulter, an seinem Unterleib. Ulba rollte sich auf dem Sand hin und her. Für einen Moment konnte
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