Nebelriss
Der Hohepriester hatte sein weißes Gewand angelegt. Auf dem Kopf trug er die zeremonielle Seidenhaube, deren acht Schnüre unter dem Kinn zusammengebunden waren. Müde erhob der Greis die Hand gegen die Thiurone. »Geht aus dem Weg!«, stieß er hervor. »Lasst ihn in Frieden!« Dann wandte er sich Nhordukael zu. »Beachte sie nicht! Ihre Worte haben keine Bedeutung; sie entstammen einer anderen Zeit, handeln von Vergangenem und Vergessenem.« In den Thiuronen, so sagte man, waren die Seelen vier mächtiger Priester der Tathrilya gefangen: von Jenos Agur, einem ehemaligen Hohepriester, und seinen drei engsten Vertrauten. Sie hatten vor über dreihundertfünfzig Jahren den Tod gefunden, hingerichtet von den Zauberern der Bathaquar-Sekte. Die Bathaquari hatten den Brennenden Berg erobert und dem Hohepriester einen grausamen Tod bereitet. Seine Seele hatten die Bathaquari in einen der Thiurone eingeschmolzen, um ihm ewige Qualen zu bereiten. Jenos Agur und seine drei Vertrauten waren für alle Zeiten in ihren steinernen Hüllen gefangen. Kein Zauberspruch, kein Ritual konnte sie erlösen.
Es war eine schreckliche Zeit für die Kirche gewesen die Zeit der Spaltung. Begonnen hatte sie mit einem harmlosen Streit. Als die Tathrilya sich von einer magischen Loge zu einer religiösen Gemeinschaft wandelte, wurden zunehmend Priester in die Loge aufgenommen, die keine Zauberer waren. Einige der älteren Zauberer sahen dies mit Sorge; sie wollten die alte Struktur der Loge bewahren und wehrten sich gegen diese Entwicklung. Der bedeutendste der Kritiker war der scharfzüngige Zauberer Bathos, und die wachsende Gemeinschaft seiner Anhänger benannte sich bald nach ihm. Zunächst war die Bathaquar nur eine bedeutungslose Gruppierung innerhalb der Kirche; für sie war Tathril der Gott der Zauberer, der mit den gewöhnlichen Menschen nichts zu schaffen hatte. Doch als die Kirche Bathos einkerkern ließ und die Verbreitung seiner Ansichten verbot, gründeten seine Schüler einen geheimen Orden, der sich immer weiter von den Grundsätzen der Tathrilya entfernte. Die Bathaquari schmähten den heiligen Durta Slargin, und sie übten sich in unheilvollen Praktiken, die einem Priester des Tathril verboten waren.
Schließlich spaltete sich die Kirche; und die Bathaquari, die sich selbst als die wahren Diener Tathrils verstanden, griffen nach der Quelle von Arnos, dem Auge der Glut. Mit der Macht, die ihnen die heilige Quelle verlieh, stand die Bathaquar dem Südbund im Freiheitskampf gegen die Königreiche des Nordens bei. Freilich tat sie dies aus reiner Berechnung. Fünfzig Jahre nach Sithars Gründung versuchte die Bathaquar, die Macht im Kaiserreich an sich zu reißen. Doch dieser Staatsstreich führte zu ihrem Untergang. Das Volk erhob sich gegen die Zauberer, und die wahre Kirche Tathrils kehrte unter den Brennenden Berg zurück. Die Bathaquar hingegen wurde zerschlagen, nachdem der Silberne Kreis im legendären Heiligen Prozess die Schuld der Zauberer bestätigt hatte. Die Bathaquari wurden in kochendem Silber ertränkt und fanden so den gerechten Tod …
Nhordukael kannte die Geschichte der Bathaquar in- und auswendig. Magro Fargh hatte sie ihm oft erzählt, und oft hatte er sie in den Kirchenbüchern nachgelesen. Obwohl Nhordukael wusste, dass in der Zeit der Spaltung unzählige Menschen den Tod gefunden hatten, ließ ihr Schicksal ihn auf merkwürdige Weise kalt. »Beachte sie nicht! Was die Thiurone auch sprechen, sie sind nichts als lebloses Gestein«, hörte er den Hohepriester wispern. »Konzentriere dich ganz auf deine Aufgabe … nur darauf, Nhordukael.« Vorsichtig stellte Nhordukael die Amphore zu Boden und strich mit der Hand über die Schale, die er umklammert hielt. Sofort begann das Öl in der Schale zu brennen; durchsichtige blaue Flammen schlugen empor. Nhordukael warf einen Seitenblick auf die Thiurone, die sich ihm auf wenige Schritte genähert hatten. Ihre Köpfe waren zur Seite geneigt, das rote Funkeln in ihren Augen erloschen.
Es war das siebte Mal, dass Nhordukael an der Seite des Hohepriesters die Halle der Ewigen Glut betrat. Zwar hatte Magro Fargh ihn auch in den vergangenen Jahren zum Brennenden Berg mitgenommen, doch niemals hatte er es Nhordukael gestattet, sich in unmittelbare Nähe der Quelle zu begeben. Nun aber stand er an Magro Farghs Seite; vor ihm die Glut des Vulkans, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieb; und über dem Lavasee schwebte das Auge Tathrils, die Quelle des Brennenden Berges.
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