Nebelriss
Armenviertel eindrang, desto weniger Menschen kreuzten ihren Weg. Sie schienen sich allesamt in ihre elenden Häuser zurückgezogen zu haben, um Schutz vor der Nacht und dem kalten Herbstwind zu suchen. Als sie das alte Wirtshaus erreichte, war sie allein in der Gasse, und es war so still, dass nur das Pfeifen des Windes zu hören war.
Das Haus war in einfacher thaxanisch-palidonischer Weise erbaut: kreuzförmig aufgerichtete Holzbalken stützten die Wände, die aus grauen Steinen gemauert waren. Ein eiserner Haken über der Tür zeigte, wo früher das Messingschild des Wirtshauses gehangen hatte. Es musste schon vor Jahren heruntergenommen worden sein. Seitdem war das Haus stark verfallen. Die oberen Stockwerke hatte wohl ein Brand dahingerafft; eine Wand war eingestürzt und notdürftig mit Holzpfeilern abgestützt worden. Die Balken des Hauses wirkten morsch und spröde. An vielen Stellen bröckelten die Steine. Die Fensteröffnungen waren mit Stroh und Decken zugestopft. Ashnada betrachtete das Haus mit gemischten Gefühlen. Es wirkte verlassen. Dennoch hatte der Botenjunge behauptet, dass ihm hier die seltsame Schriftrolle ausgehändigt worden sei. Sie vergewisserte sich noch einmal, dass ihr niemand gefolgt war. Dann schritt sie zur Tür. Sie war aus dunklem Holz gefertigt; große Spalten klafften auf der rauen Oberfläche. Vermutlich war sie einst mit Eisennieten beschlagen gewesen. Vorsichtig legte Ashnada ihr Ohr an die Tür und horchte. Kein Laut drang von innen. Dann aber spürte Ashnada einen feinen Windhauch an ihrer Wange. Sie bemerkte, dass die Tür einen Spaltweit offen stand. Langsam zückte sie ihr Schwert. Horchte nochmals. Schließlich drückte sie mit dem Handballen vorsichtig gegen die Tür. Ächzend gab sie nach und schwang nach innen. Der flackernde Lichtschein von Ashnadas Öllampe schwappte in den Raum. Wie verängstige Fledermäuse wichen die Schatten zurück, flohen in die hintersten Winkel des Raumes und stürzten sich dort von Wand zu Wand.
Erstaunt sah sich Ashnada im Inneren des Wirtsraumes um. Sie hatte eine heruntergekommene, verstaubte Kammer erwartet, bewohnt von Ratten und Ungeziefer. Stattdessen erblickte sie einen behaglich eingerichteten Wohnraum. Auf dem Boden lag ein dunkelroter Samtteppich, darauf stand ein Holztisch, gedeckt mit Bechern und Tellern; eine erloschene Feuerstelle, über der ein Kessel kreiste; ein Deckenlager. Der Raum wirkte, als ob in ihm noch vor wenigen Stunden eine Gesellschaft getafelt hätte.
Vorsichtig zog Ashnada die Tür hinter sich zu und begann den Raum zu durchsuchen. Neben dem Tisch entdeckte sie eine eiserne Truhe, deren Verschlüsse offen standen. Ashnada steckte ihre Klinge in die Schwertscheide, stellte die Lampe zu Boden und hob den Deckel der Truhe an.
Der Inhalt war ernüchternd. Außer zwei Büchern und ein paar Kupfermünzen enthielt die Truhe lediglich einige Bündel aus schwarzem Stoff. Prüfend nahm Ashnada eines von ihnen in die Hand. Unter dem Stoff spürte sie einen schweren Gegenstand. Behutsam schlug sie das Tuch zur Seite. Ein Dolch kam zum Vorschein, seltsam geformt und mit Verzierungen versehen. Er bestand aus reinem Silber, die Klinge war stumpf und abgerundet; als Waffe war der Dolch offensichtlich unbrauchbar. In seinen Griff war das Abbild einer verblühenden Rose eingeritzt; am Kopf des dornenbesetzten Stiels hingen vertrocknete Blütenblätter; andere fielen herab. Ashnada kamen die Verse der Schriftrolle in den Sinn. »Der Rosenstock trägt keine Blüten mehr«, flüsterte sie. Kopfschüttelnd legte sie den Dolch in die Truhe zurück und griff nach dem zweiten Bündel. Als sie den eingeschlagenen Gegenstand ausgewickelt hatte, war sie zunächst ratlos - ein längliches graues Etwas, unförmig und aus einem merkwürdigen Material. Dann erst begriff Ashnada, dass sie einen verblichenen Knochen in der Hand hielt -ein fingergroßes Knochenstück. Seine Oberfläche war glatt und schimmerte im Licht. Die Berührung zahlreicher Hände musste ihn im Lauf der Jahrzehnte glatt geschliffen haben.
Nachdenklich wog sie ihn in der Hand. Dann entdeckte sie an der Unterseite des Knochens ein winziges Symbol. Es war erneut das Zeichen der verblühenden Rose, sorgfältig in den Knochen eingebrannt.
Der Schatten ihres Kopfes fiel über ihre Hand. Ärgerlich hob Ashnada die Hand etwas höher, um das Zeichen näher betrachten zu können. Sie hatte Schriftzeichen unter der Rose entdeckt; hakenförmige Symbole, die ineinander
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