Nebelriss
behalten, um Sithar zu schützen, denn sonst ist es dem Untergang geweiht.« »Die Fürsten trauen uns nicht mehr«, erwiderte Binhipar. »Sie werden sich von Baniter aufhetzen lassen.« »Wenn die Goldei erst an unseren Grenzen stehen, werden sie sich wieder winselnd um uns scharen«, prophezeite Scorutar. »Die Fürsten müssen diesen Weg mit uns gehen, so rau er auch sein mag. Sie sind uns ausgeliefert.«
»Und der Kaiser?«, fragte Binhipar schroff. »Er ist uns bei der Abstimmung erneut in den Rücken gefallen.« Scorutar wandte sich von Binhipar ab. »Seit wann ist Akendor ein Problem für uns?« Er schritt zum Fenster zurück. »Ihr wisst, wie leicht er sich einschüchtern lässt! Ich werde dafür sorgen, dass er sich so bald nicht mehr gegen uns stellt.« Gemächlich lehnte er sich an die steinerne Fenstereinfassung und ließ den Blick durch die Nacht schweifen; über die Dächer und Türme des Palastes, die im dunstigen Licht des Mondes schimmerten; über die Mauern hinweg auf die Kaiser-Akrin-Brücke, die zu der großen, gewaltigen Stadt Thax auf dem gegenüberliegenden Hügel führte und in deren verlassenen Straßen vereinzelt Fackeln aufleuchteten, schmale rote Lichter; und als der Wind seine Haut mit feinem Nieselregen benetzte, schloss Scorutar entspannt die Augen und lächelte voller Selbstzufriedenheit.
Es war nicht einfach gewesen, den Jungen ausfindig zu machen. In der Stadt Thax gab es zahllose Botendienste, und sie beschäftigten ein ganzes Heer von Jungen und Mädchen. Zumeist waren es die Kinder von Bettlern und Huren, Lastenträgern und Kleinarbeitern, oder es waren Waisen und Findelkinder, die selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen mussten.
Es hatte Ashnada große Geduld und so manche Kupfermünze gekostet, die Spur des Jungen aufzunehmen. Doch schließlich hatte sie ihn gefunden - das jüngste Kind eines Stadtbüttels, der nahe dem nördlichen Wachturm lebte. Ein paar Drohungen, ein paar Versprechungen, und schon hatte Ashnada erfahren, was sie wollte. Mit fester Hand umklammerte Ashnada die Öllampe, deren Licht die Gasse erhellte. Eng drängten sich die heruntergekommenen Häuser und Hütten aneinander, vielstöckige Ungetüme aus Holz und Lehm. Sie standen so dicht beisammen, dass die Gasse an manchen Stellen selbst für einen schmalen Holzkarren unpassierbar war. Zwischen den flachen, gertengedeckten Dächern war nur ein schmaler Himmelsstreifen zu sehen. Nun, da die Nacht angebrochen war, verschluckte die Dunkelheit den Anblick des Elends, das in diesen Häusern herrschte: die ausgezehrten Gesichter der Menschen, die in den dunklen, türlosen Löchern hausten, den allgegenwärtigen Schlamm und Dreck, die streunenden Hunde und Ratten. Nur den Gestank konnte auch die Nacht nicht verbergen: ein bitterer Geruch nach Tier- und Menschenkot, nach verfaultem Gemüse, nach ranzigem Fett. Vorsichtig setzte Ashnada ihre Schritte über den aufgeweichten Boden, stieg hier über die Reste einer alten Holzkiste hinweg, dort über einen Haufen verkrusteter Leinendecken oder einen durchgerosteten Kessel. Immer wieder blickte sie sich um, und die vorbeieilenden Bettler musterte sie voller Misstrauen.
Sie wagte sich nur ungern in diesen Teil der Stadt. Zwar verschaffte ihr allein ihre herrische Gangart genügend Respekt, sodass sie einen Überfall kaum befürchten musste. Auch das Schwert, das sich deutlich unter ihrem Mantel abzeichnete, musste jedem gierigen Schurken verraten, dass er es mit einer Kriegerin zu tun hatte, vor der man sich lieber in Acht nahm. Dennoch fühlte sich Ashnada unwohl; ab und zu befiel sie die Angst, sich in diesem Labyrinth der Trostlosigkeit zu verlieren und ihm nicht mehr entrinnen zu können.
Der Junge hatte ihr den Weg zu dem Haus genau beschrieben, mit stockender Stimme und tränenverhangenen Augen. Ihm war die Schriftrolle in einem leer stehenden Wirtshaus gegeben worden, das am Rand eines kleinen Platzes lag. Den Platz gab es längst nicht mehr; die Bewohner des Viertels hatten ihn mit ihren Hütten zugebaut. Doch das Wirtshaus, so behauptete der Junge, existierte noch - das einzige steinerne Gebäude in dieser Gasse, nicht zu verfehlen.
Ashnada hatte den Einbruch der Dunkelheit abgewartet, bevor sie aufgebrochen war. Denn das, was sie vorhatte, sollte so wenig Aufsehen wie möglich erregen; es sollte in der Nacht geschehen, wenn das ganze Viertel schlief, wenn sich niemand auf die Straße wagte außer den Heimatlosen und Unerschrockenen.
Je tiefer sie in das
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