Nebelsturm
besser, Gerlof?«, fragte Maja Nyman.
Gerlof stellte bedächtig seine Kaffeetasse auf dem Tisch ab und dachte einen Augenblick nach, bevor er antwortete. So wie er es immer zu tun pflegte.
»Nicht alles. Und auch nicht immer. Vieles war aber zumindest … überlegter«, erwiderte er. »Wir hatten mehr Zeit nachzudenken, bevor wir gehandelt haben. Das hat man heutzutage nicht mehr.«
»Überlegter?«, wiederholte Maja. »Aha, das findest du also. Erinnerst du dich an den Schuhmacher in Stenvik? Als wir klein waren?«
»Meinst du den Schuh-Paulsson?«
»Genauden, Arne Paulsson«, bestätigte Maja. »Der Welt schlechtester Schuhmacher. Er konnte rechts und links nicht voneinander unterscheiden, oder vielleicht fand er es auch unnötig. Darum bestand ein Paar Schuhe immer aus zwei gleichen Seiten.«
»Doch«, nickte Gerlof, »an den erinnere ich mich.«
»Am besten kann ich mich an die Schmerzen erinnern«, lachte Maja. »Paulssons Holzclogs drückten und schlappten gleichzeitig. Und wenn man schnell lief, fielen sie einem von den Füßen. War das wirklich besser?«
Tilda saß mit Maja und Gerlof im Speisesaal des Altersheimes und hörte fasziniert zu. Darüber hätte sie fast ihre Schwierigkeiten bei der Arbeit vergessen.
Solche Gespräche über die guten alten Zeiten müssten alle aufgenommen und archiviert werden, aber ihr Tonbandgerät lag leider auf Gerlofs Schreibtisch.
»Nein, natürlich nicht«, widersprach Gerlof und hob die Kaffeetasse. »Früher waren auch nicht alle immer vorausschauend. Aber die Leute haben sich wenigstens Gedanken gemacht.«
Zwanzig Minuten später saßen Tilda und Gerlof wieder in seinem Zimmer, und auch das Tonbandgerät lief erneut. Die Wanduhr tickte im Hintergrund, als Gerlof über seine ersten Jahre auf See erzählte.
Es war mitnichten trostlos und langweilig im Altersheim, befand Tilda – es war ruhig und beschaulich. Sie fühlte sich zunehmend wohler in Gerlofs kleinem Zimmer, dort konnte man die Ereignisse der vergangenen Tage vergessen. All das, was auf Åludden schiefgelaufen war.
Falscher Name, falsche Todesnachricht, falsche Antworten – ein trauernder Ehemann, der nicht mit ihr sprechen wollte, und bestimmt ein Haufen Getratsche unter den Kollegen. Und das alles an ihrem ersten Arbeitstag auf der Insel.
Und dabei war sie gewiss nicht die Einzige, die einen Fehler begangen hatte.
Plötzlich bemerkte sie, dass Gerlof aufgehört hatte zu plaudern und sie ansah.
»So war das«, ergänzte er. »Alles verändert sich.«
Das Tonbandgerät lief weiter.
»Ja, es sind neue Zeiten angebrochen«, sagte Tilda mit erhobener Stimme. »Und die alten Zeiten … Woran denkst du, wenn du dich an sie erinnerst?«
»Nun ja, ich denke da natürlich an die Seefahrt«, antwortete Gerlof und schielte misstrauisch auf den Apparat. »Der Hafen von Borgholm war voller schöner Küstenfrachter. Und es duftete so herrlich, wenn man an Bord ging … Holzteer, Farbe und Heizöl … altes Bilgewasser am Boden der Laderäume und Essensgerüche aus der Kombüse.«
»Und was gefiel dir am besten?«, hakte Tilda nach.
»Die Gelassenheit … und die Stille. Die Dinge durften ihre Zeit dauern. Zu der Zeit, als ich Küstenfrachter gesegelt bin, waren viele der Schiffe schon motorisiert, aber auf den reinen Seglern konnte man nichts mehr ausrichten, wenn abends der Wind abflaute. Da warf man den Anker und wartete, dass am nächsten Morgen wieder Wind aufkam. Und ehe das Telefon und das Kurzwellenradio erfunden wurden, wusste auch niemand, wo die Frachter sich gerade befanden. Sie tauchten einfach eines schönen Tages vor der Küste wieder auf, mit vollen Segeln auf dem Weg in den Heimathafen. Erst dann konnten die Ehefrauen für eine Weile aufatmen.«
Tilda nickte. Dann musste sie wieder an die falsche Todesnachricht von letzter Woche denken:
»Was weißt du eigentlich über Hof Åludden, Gerlof?«
»Åludden? Eine ganze Menge. Der lag zwar auf der anderen Seite der Insel, aber dein Großvater hat früher dort gewohnt, er war ein Nachbar sozusagen.«
»Wirklich?«
»Ja, in der Nähe. Sein Sommerhaus lag ein paar Kilometer nördlich von Åludden. Ragnar war an der Landzunge dort Aale fischen, und außerdem hat er den Posten des Leuchtturmaufsehers bekleidet.«
»Ranken sich besondere Geschichten um den Ort?«
»Ja, über den Hof kursieren einige Legenden. Es heißt, das Fundament stamme von einer alten, verlassenen Kapelle und die Balken des Hauses seien Überreste eines
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