Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nebelsturm

Nebelsturm

Titel: Nebelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johan Theorin
Vom Netzwerk:
nichts zu hören – abgesehen von den leisen Atemzügen neben ihm.
    Vorsichtig und geräuschlos stand er auf und wollte hinausschleichen. Aber schon nach drei Schritten hörte er die wohlbekannte helle Stimme hinter ihm sagen:
    »Geh nicht, Papa.«
    Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um.
    »Warum nicht?«
    »Geh nicht.«
    Livia lag regungslos in ihrem Bett, mit dem Gesicht zur Wand. War sie überhaupt wach?
    Joakim konnte ihr Gesicht nicht sehen, nur ihr blondes Haar. Er ging zurück ans Bett und setzte sich neben sie.
    »Schläfst du, Livia?«, fragte er leise.
    Nach einer kurzen Pause bekam er eine Antwort.
    »Nee.«
    Sie klang wach und vollkommen ruhig.
    »Schläfst du?«
    »Nee … ich sehe Dinge.«
    »Wo denn?«
    »In der Wand.«
    Sie redete mit monotoner Stimme und atmete dabei ruhig und gleichmäßig weiter. Joakim beugte sich zu ihr hinunter.
    »Was siehst du denn da?«, fragte er.
    »Licht, Wasser … Schatten.«
    »Und was noch?«
    »Es ist ganz hell.«
    »Siehst du auch Menschen?«
    Erneut dauerte es, bis er eine Antwort erhielt:
    »Mama.«
    Joakim erstarrte. Er hielt den Atem an, ihn befiel plötzlich eine unbegreifliche Angst, dass sie die Wahrheit sprach. Dass Livia schlief und tatsächlich Dinge in der Wand sehen konnte. Stell keine Fragen mehr , beschwor er sich. Geh ins Bett und schlaf weiter.
    Aber er musste einfach weiterfragen:
    »Wo siehst du Mama?«
    »Hinter dem Licht.«
    »Siehst du …«
    Livia unterbrach ihn, ihre Stimme klang jetzt aufgebrachter.
    »Alle stehen sie da und warten. Und Mama steht zwischen ihnen.«
    »Wer denn? Wer sind die?«
    Sie gab keine Antwort.
    Livia hatte schon mehrmals im Schlaf gesprochen, aber noch nie so explizit. Joakim glaubte noch immer, dass sie eigentlichwach war und sich einen Spaß mit ihm erlaubte. Und doch musste er noch eine Frage stellen:
    »Wie geht es Mama?«
    »Sie sehnt sich nach uns.«
    »Sehnen?«
    »Sie will reinkommen.«
    »Sag ihr …« Joakim musste schlucken, sein Mund war wie ausgetrocknet. »Sag ihr, dass sie kommen kann, wann immer sie möchte.«
    »Aber sie kann nicht.«
    »Kann sie uns nicht finden?«
    »Nicht im Haus.«
    »Kannst du mit ihr reden?«
    Schweigen. Joakim wiederholte seine Frage langsam und deutlich:
    »Kannst du Mama fragen, was sie unten am Wasser gemacht hat?«
    Livia lag regungslos im Bett. Obwohl er keine Antwort erhielt, wollte er noch nicht aufgeben.
    »Livia? Kannst du mit Mama reden?«
    »Sie will reinkommen.«
    Joakim richtete sich auf. Das war hoffnungslos.
    »Du musst jetzt versuchen …«
    »Sie will reden«, unterbrach ihn Livia.
    »Sie will?«, wiederholte Joakim. »Worüber denn? Was will uns Mama denn sagen?«
    Aber Livia gab keine weiteren Auskünfte.
    Auch Joakim schwieg, erhob sich langsam von ihrem Bett.
    Er stellte sich ans Fenster, schob die Gardine ein Stück beiseite und sah hinaus. Dabei erblickte er sein eigenes durchsichtiges Spiegelbild in der Glasscheibe, eine Nebelgestalt – aber dahinter war nichts zu sehen.
    Kein Mond, keine Sterne. Eine dichte Wolkendecke verhüllte den Himmel. Das Gras auf der Weide wiegte sich sanft im Wind, sonst gab es keine Bewegungen.
    War dort draußen jemand? Joakim ließ die Gardinen zurückgleiten. Hinauszugehen und nachzuschauen würde bedeuten, Livia und Gabriel allein im Haus zu lassen, und das wollte er nicht. Er blieb am Fenster stehen, unentschlossen, dann drehte er sich plötzlich um:
    »Livia?«
    Keine Antwort. Er trat ans Bett, erkannte aber sofort, dass sie tief schlief.
    Er wollte noch weitere Fragen stellen, sie vielleicht sogar aufwecken und herausfinden, ob sie sich an die Bilder aus ihrem Schlaf erinnern konnte. Und doch wusste er, dass es keinen Sinn machte.
    Joakim legte die geblümte Bettdecke über ihre schmalen Schultern und kuschelte sie ein.
    Dann kehrte er in sein eigenes Bett zurück. Die Decke fühlte sich wie eine Schutzhülle gegen die Dunkelheit an, als er hineinkroch.
    Angestrengt horchte er, ob aus dem Flur oder Livias Zimmer noch Geräusche drangen. Aber im Haus war alles still, nur Joakims Gedanken wanderten zu Katrine. Es dauerte Stunden, ehe er wieder einschlafen konnte.

12
    A n einem Freitagabend Ende November.
    Das große Pfarrhaus von Hagelby war fast zweihundert Jahre alt und lag am Ende eines kleinen Waldweges, etwa einen halben Kilometer außerhalb der Ortschaft. Es war schon lange nicht mehr im Besitz der schwedischen Kirche. Henrik wusste, dass der Hof an ein pensioniertes Lehrerehepaar aus Emmaboda

Weitere Kostenlose Bücher