Nebelsturm
zufrieden.
»Stell dich mal da rüber«, wies Andreas sie an und zeigte auf die zweite Tür in diesem Raum, an der Stirnseite. »Dann bist du der Torwart.«
Sofort lief Livia zu der Doppeltür, und Joakim verließ leise das Zimmer, um sich wieder ans Tapezieren zu machen. Er hörte, wie der Ball hinter ihm über den Boden sprang.
»Tor!«, schrie Andreas. Livia und Gabriel brüllten zurück, bis alle drei lauthals zu lachen anfingen.
Joakim genoss die fröhlichen Geräusche, die durch das Haus drangen. Gut gemacht, er hatte seinen Kindern einen neuen Freund organisiert.
Er steckte den Pinsel in den Eimer mit Tapetenkleister, rührte ihn sorgfältig um und machte sich daran, die lange Wandseite zu tapezieren. Eine Bahn nach der anderen wurde an die Wand geklebt, der Raum veränderte seine Farbe und wurde langsam heller. Joakim glättete die Luftblasen und wischte überflüssigen Kleister mit einem feuchten Schwamm weg.
Als nur noch ein Meter von der alten Wand zu sehen war, wurde Joakim plötzlich bewusst, dass er kein Kindergeschrei mehr aus dem Festsaal hörte.
Der Hof war erneut in tiefe Stille gehüllt.
Joakim stieg von der Leiter und lauschte.
»Livia?«, rief er. »Gabriel? Wollt ihr Saft haben? Und Kekse?«
Keine Antwort.
Wieder lauschte er, machte sich dann aber auf den Weg durch den Flur zum Festsaal. Auf halber Strecke sah er aus dem Fenster in den Innenhof und blieb abrupt stehen.
Die Tür zur großen Scheune stand einen Spalt offen.
Die war doch vorhin noch geschlossen gewesen, oder nicht?
Dann entdeckte er, dass Andreas’ Jacke nicht mehr auf dem Boden lag.
Joakim zog sich Anorak und Stiefel an und ging hinaus in den Innenhof.
Die Kinder mussten zusammen die schwere Scheunentür aufgeschoben haben. Vielleicht waren sie auch reingegangen.
Joakim ging zur Scheune, blieb aber in der Tür stehen.
»Hallo?«
Keine Antwort.
Spielten sie Verstecken? Er ging über den Steinfußboden und atmete den Geruch von altem Heu ein.
Sie hatten darüber gesprochen, aus der Scheune eine Galerie zu machen, Katrine und er, in ferner Zukunft einmal, wenn das Heu und alle anderen Spuren von Tieren entfernt wären.
Jetzt dachte er ja schon wieder an Katrine, obwohl er das nicht sollte. Aber am Morgen ihres Todes hatte er sie aus der Scheune kommen sehen, und sie hatte einen schuldbewussten Gesichtsausdruck gehabt, so als hätte er sie bei etwas erwischt.
In der Scheune war niemand, und doch hatte Joakim den Eindruck, vom Heuboden ein knackendes oder klopfendes Geräusch zu hören, wie Schritte.
Eine schmale und steile Holztreppe führte nach oben, er hielt sich am Geländer fest und kletterte hoch.
Von den dunklen Gängen und Verschlägen der Scheune auf den Heuboden zu kommen war wie das Emporsteigen in einer Kirche, fand Joakim. Hier gab es nur einen einzigen, großenRaum, in dem das Heu getrocknet wurde – Makler würden das einen offenen Grundriss nennen –, über ihm schwebte nur das spitz zulaufende Dach. Und ein paar Meter über Joakims Kopf verliefen schwere Dachbalken.
Im Gegensatz zu dem Obergeschoss des Hauptgebäudes konnte man sich hier oben nicht verlaufen, auch wenn es schwer war, sich durch den ganzen Krempel auf dem Boden einen Weg zu bahnen.
Zeitungsstapel, Blumentöpfe, kaputte Holzstühle, alte Nähmaschinen – der alte Heuboden war zu einem Schrottplatz verkommen. An die eine Wand hatte jemand fast mannshohe Traktorreifen gelehnt. Wie hatten sie die nur hier hochgezogen?
Als er seinen Blick über den unordentlichen Heuboden schweifen ließ, erinnerte sich Joakim plötzlich daran, dass er geträumt hatte, Katrine hätte dort gestanden. Der Boden war frei geräumt gewesen, und sie hatte dort an der Wand gestanden, den Rücken zu ihm gewandt. Er hatte große Angst gehabt, zu ihr zu gehen.
Der winterliche Wind war nur ein schwaches Flüstern, das über das Dach der Scheune strich. Ihm gefiel es nicht, allein in der Kälte zu stehen.
»Livia?«, rief er.
Der Holzboden unter ihm knackte, das war die einzige Antwort auf sein Rufen. Vielleicht hatten sich die Kinder in den Ecken versteckt und beobachteten ihn jetzt.
Sie versteckten sich vor ihm. Er schaute sich um und lauschte.
»Katrine?«, fragte er leise.
Keine Antwort. Mehrere Minuten lang stand er wartend in der Dunkelheit, aber als die Stille auf dem Heuboden von keinem Laut unterbrochen wurde, stieg er schließlich die Leiter wieder hinunter.
Als er ins Haus zurückkam, fand er seine Kinder dort, wo er zuerst hätte
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