Neben Der Spur
Raums leuchtet ein impressionistisch getüpfeltes Aquarellgemälde herüber, zeigt eine Schar nackter Frauen, die einen Reigen auf blühender Wiese vollführen. Im Hintergrund eine Herde Schafe und ein Rudel Wölfe – allesamt grasend.
»Herzlichen Dank für Ihren Besuch, mein Fräulein, bitte nehmen Sie Platz!«, sagt Hermann Hepp und weist mit einladender Geste auf eine weniger einladend aussehende Sitzgelegenheit mit fadenscheiniger Polsterung.
»Trinken Sie einen Tee mit mir?« Er blickt an Karo vorbei, gibt seiner Nichte einen Wink.
»Ja, bitte, danke …«, sagt Karo, froh, sich setzen zu können, denn ihre Knie schlottern vor Aufregung. Tapfer nimmt sie die lose Sprungfeder in Kauf, die der Polstersessel in ihren Po drückt. Trixi legt sich ihr zu Füßen.
Die Chefin persönlich organisiert die Bewirtung, ruft den Pfleger herbei, während Hermann Hepp »das Fräulein« kommentarlos mustert. Karo hat, um sich den Bekleidungskonventionen in der Firma Hepp anzupassen, ein graues Leinenkleid bei eBay ersteigert, für sage und schreibe zwei Euro plus Portokosten, Größe zweiundvierzig, also viel zu weit, dafür mit einem zerschlissenen Bindegürtel im Rücken. Sie musste bloß den Saum abschneiden und ausfransen, sich ein paar anthrazitfarbene Leggins dazu besorgen. In der Kombination würde sie sich glatt auf einen Laufsteg wagen.
Der Pfleger ist offenbar auch als Hausdiener engagiert. Er bringt eine Thermoskanne und zwei Teegedecke herein, cremeweißes Porzellan mit blauem Rand, wobei die Tassen beidseitig Henkel aufweisen. Dazu gibt es einen Teller mit Pralinen.
Hermann Hepp betrachtet das Arrangement, nickt eine Spur zu hoheitsvoll. »Gudrun, mein Herz, du hast sicher zu tun, nicht wahr? Du darfst uns allein lassen.«
Die Chefin scheint keineswegs verärgert, eher erleichtert. Keine zwei Minuten nach ihrem Verschwinden erklingt Klaviermusik.
Hermann Hepp rückt Karos Gedeck ein Stück näher zu ihr hin. »Bitte wundern Sie sich nicht. Ich benötige, um eine volle Tasse in Balance halten zu können, neuerdings zwei Henkel. Nun hat meine Nichte ein ganzes Service dieser Art anfertigen lassen, wohl aus Rücksicht auf meine Gefühle. Sie ist ein Goldschatz, wissen Sie, möchte mir bei Tisch den Sonderstatus des Tattergreises ersparen.«
»Ich – äh – finde das Service sehr hübsch. Und – tja – praktisch«, sagt Karo und wundert sich über den Schalk in den faltigen kleinen Augen des Seniors. Also hat er sie doch erkannt, wird sie aber nicht verraten? Oder er ist auch so ein Ironiebolzen wie seine Nichte?
»Und Sie heißen Ros…?«
»Rosenkranz. Das ist mein Nachname.«
»Ein jüdischer Name, nicht wahr?«
»Ach ja? Fänd ich interessant! Aber ich glaub nicht. Meine Verwandten sind alle evangelisch oder katholisch. Oder gar nichts.«
Sein Kinn zittert, er schließt die Augen. »Seien Sie vorsichtig«, raunt er. »Den Nazis sind konvertierte Juden erst recht verdächtig.«
Karo weiß nicht, was sagen. Hat nie was von jüdischen Ahnen gehört. Bloß von einer orthodoxen Seitenlinie, die den Kontakt zum Rest der Familie abgebrochen hat. – Und überhaupt, was fragt er solche Sachen? Sie lächelt abwartend.
»Bitte nehmen Sie ruhig von dem Konfekt!«
Karo mustert den Teller mit Pralinen, summiert gute dreitausend Kilokalorien.
»Nehmen Sie nur!«
Sein Ton lässt keinen Widerspruch zu, Karo greift sich eine mit Kokos ummantelte Kugel heraus, beißt ein paar Raspeln ab und lässt den Rest zu Boden fallen, direkt vor Trixis Schnauze.
Der Senior nimmt sich eine dunkle Praline mit aufgeklebter Pistazie, kaut langsam, als denke er nach. »Diese Tätowierung auf Ihrem Arm. Darf ich sie mir näher ansehen?« Ohne die Antwort abzuwarten, beugt er sich über den Schreibtisch, äugt durch seine Goldrandbrille, verengt den Blick und liest atemlos: »A … C … Schrägstrich … D … C …«
»Ach das!«, sagt Karo. Sie hat sich vor ein paar Jahren den Namen der Hardrock-Gruppe in Rot und Blau auf den Oberarm stechen lassen. »Das ist total alt. Ich will es schon lange wegmachen lassen, aber so was ist aufwendig und teuer.«
Er sinkt zurück in seinen Rollstuhl, schließt schon wieder die Augen, schweigt. Schweigt lange. Eine Ewigkeit.
Guter Manitu, denkt Karo, was mach ich, wenn er jetzt stirbt?
Sie lauscht auf das Klavierspiel von nebenan. Zartes helles Geklimper, passend zum Plätschern des Zimmerspringbrünnleins. Karo entspannt sich, die Chefin wäre zur Not gleich greifbar.
Endlich wird
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