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Neben Der Spur

Neben Der Spur

Titel: Neben Der Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ella Theiss
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lallen und heulen rum. Tragen Windeln wie Kleinkinder.«
    »Mira aber nicht!«
    »Dafür tut sie, als ob ich Luft wäre.«
    »Das ist nun mal ihre Krankheit. Wo ist das Problem?«
    »Bitte komm mit, du bist doch meine Freundin!«
    Karo hat nie darüber nachgedacht, ob Bea ihre Freundin ist, hätte die Anfrage – außerhalb von Facebook – garantiert verneint. Aber warum soll sie ihr nicht den Gefallen tun? »Okay«, sagt sie, »wenn du dafür versprichst, für den Rest des Tages clean zu bleiben.«
    »Danke!« Bea deutet ein Lächeln an.
    Die Heimleiterin allerdings zeigt sich von Karos Auftauchen wenig begeistert, hatte nur mit der Mutter gerechnet.
    »Ich bin die Tante, väterlicherseits«, behauptet Karo.
    »Tja, wissen Sie, dies ist ein Elternsprechtag und … «
    »Tja, wissen Sie, Mira hat sonst keine Verwandtschaft. Und ich würde mich gern davon überzeugen, dass meine Nichte hier gut aufgehoben ist.«
    Frechheit siegt, behauptet Karos Vater immer. Und diesmal stimmt es sogar. Die Heimleiterin lenkt ein: »Wenn die Mutter einverstanden ist.«
    Bea hat das Gespräch mit offenem Mund verfolgt. Stammelt endlich: »Bitte … danke … ja!«
     
    Die Heimleiterin beginnt, mit gespielt guter Laune, ein kleines Sündenregister aufzuzählen, denn Mira sei keinesfalls so pflegeleicht, wie es vielleicht den Anschein habe. Das Kind nehme immer wieder Schachbretter aus dem Gemeinschaftsraum mit und verstecke sie in ihrem Bett. Mira habe neulich einen Autoatlas aus dem Verwaltungsbüro entwendet und mittels einer Schere in kleine Stücke geschnitten. Sie sei mehrmals in der Nacht aus ihrem Bett entwichen, auf den Dachboden geklettert, um dort weiterzuschlafen. Sodass man diesen aus eben jenem Grund nun immer abschließen müsse. Und dann der unvermutete Ausflug in den Kaiser-Wilhelm-Ring, wo man sie aus der Wohnung einer Nachbarin habe holen müssen …
    Bea lässt den Sermon kleinlaut über sich ergehen. Karo grinst, tätschelt ihr die Hand.
    Aber es gebe auch Erfreuliches zu berichten, fährt die Heimleiterin mit angestrengtem Lächeln fort. Mira könne nämlich lesen.
    »Sie kann was?« Beas Augäpfel verdoppeln ihre Größe.
    »Es ist mehr als nur Lesen.« Die Heimleiterin tut geheimnisvoll, tippt in die Sprechanlage und beordert eine junge Therapeutin mit Doktortitel zu sich, die Bea und Karo in den Gruppenraum führt. Dort wartet Mira schon an einem der Tische. Ihre dunklen Kringellocken sind heute zu einem artigen Zopf im Nacken gebunden, der Blick irrlichtert wie immer im Raum umher, scheinbar an allen Personen vorbei.
    »Mira, komm zeig deiner Mama und deiner Tante mal, was du kannst!«
    Mira senkt den Kopf, ein Hauch von Röte überzieht das blasse Gesicht.
    Die Therapeutin holt eine Registrierkiste aus der Bürowand, offenbar eine Kiste speziell für Mira. Ihr Name und ihr Geburtsdatum, der 8. März 2003, sind auf dem Rücken des Kartons notiert.
    Miras Haltung strafft sich zusehends.
    »Und nun zeig uns mal, wie du liest«, sagt die Therapeutin und reicht Mira ein Kärtchen mit der Aufschrift Baum in Druckbuchstaben. Mira greift in die Kiste, zieht nacheinander ein gutes Dutzend Fotos heraus, auf denen Linden, Buchen, Platanen, Tannen abgebildet sind, dann eine kindliche Darstellung von einem Baum mit dickem Stamm und grüner Haube, die Piktogramme eines Laub- und eines Nadelbaums, zuletzt ein weiteres weißes Kärtchen, auf dem das Wort Baum in Schreibschrift steht.
    »Sehen Sie, sie kann nicht nur lesen, sie kann auch abstrahieren, also verschiedene Arten von Bäumen und deren Darstellung einander zuordnen.«
    Beate und Karo verfolgen gespannt, wie sich ein ähnliches Spiel beim Wort ›Haus‹ wiederholt. Mira zieht alles aus der Kiste, was ein Haus darstellt, von der Wellblechhütte über das Wohnsilo einer Trabantenstadt und den Luxusbungalow bis hin zum Schloss Bellevue. Sogar das Haus-vom-Nikolaus-Piktogramm, das Kindern zum Ausprobieren ihrer logistischen Fähigleiten dient, ordnet sie zu. Einen Fliegenpilz, der nach kindertümelnder Zeichnung zwei Fensterchen, eine Tür und einen rauchenden Schornstein aufweist, räumt sie beiseite. Ebenso eine Hundehütte und das Foto eines bunten Zelts, in dem Kinder spielen. Die Therapeutin legt beide zum Stapel mit den realistischen ›Häusern‹, doch Mira greift sie wieder raus und wirft sie zu Boden.
    »Sie sehen, Ihre Tochter lässt nur echte Häuser und Haussymbole gelten, also wirkliche Bedeutungsbezüge. Fantasiegebilde gehören für Mira nicht dazu. Das

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