Neben Der Spur
der Senior wieder munter. »Und Ihr Vorname?«
»Karoline.«
»Das ist gut. Ja, sehr gut! Hervorragende Namenswahl. Vielleicht etwas altmodisch. Karoline hieß eine uralte Tante von mir.«
Karos Kaffeebecher kippelt trotz der zwei Henkel. Unter der uralten Tante dieses uralten Mannes kann sie sich nicht mal mehr ein Häuflein Knochen vorstellen. »Nennen Sie mich Karo, das tun die meisten.« Sie senkt den Blick und registriert mit Erleichterung, dass die Praline zu ihren Füßen verschwunden ist. Trixi hat ihre Schnauze auf Karos Pumps abgelegt.
Hermann Hepp wiegt den Kopf. »Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich spiele gerne Karten. Dennoch möchte ich Sie lieber Karola nennen. Ja, Karola. Das klingt schick und modern, nicht wahr?« Er schnalzt mit der Zunge, um anzudeuten, wie modern er den Namen findet.
Karola – auch das noch! Karo muss an die Dutt-Trägerinnen auf den Werbeprospekten der Firma denken. Doch warum soll man einem so alten Mann nicht einen vielleicht letzten Wunsch erfüllen. »Na gut«, sagt sie.
Er zwinkert ihr zu, nimmt einen Schluck aus seiner Tasse, setzt sie behutsam ab und faltet die Hände auf der Schreibtischplatte. Über den knochigen Handrücken mit wurmdicken Adern zieht sich eine Haut wie zerknittertes Seidenpapier. Karo sieht rasch weg.
Das Geklimper im Nebenraum wird lauter. Rasche Läufe die Tonleiter hinauf, immer heller, immer schneller: Bi-bi-bi-bi-bi-bi-bi … Dazwischen ein anschwellendes Bommm-bommm … Dunkle Ahnung … Spannung zum Zerreißen … Jäher Abbruch und ein grauenhaft dissonanter Donner – ganz so, als bearbeite jemand die Tastatur mit der Faust.
Karo fährt zusammen.
»Meine Nichte spielt ausgezeichnet Piano«, sagt der Senior.
»O ja!«
»Das Klavierkonzert von Edvard Grieg ist enorm schwer.«
»O ja«, wiederholt Karo. Wobei ihr auffällt, wie ähnlich ›Grieg‹ und ›Krieg‹ klingen. Ob sie den Alten mit einem Trick noch mal zum Ausrasten bringen soll? Vielleicht wird er sogar noch gesprächiger als beim letzten Mal. Lieber nicht! Oder doch? Schwups ist das Stichwort draußen: »Ja, Krieg ist echt heftig«, hört Karo sich seufzen.
»G-grieg«, sagt er. Die Augenlider senken sich nachsichtig. »Edvard Grieg schreibt sich mit einem G. – Sie verstehen nicht viel von Musik, nicht wahr?«
Karo denkt an ihre vergeblichen Versuche, im Alter von sieben, acht Jahren ihrer Blockflöte ein verifizierbares Fuchs-du-hast-die-Gans-gestohlen abzuringen. »Von klassischer Musik wenig«, bekennt sie.
Ein erneut anschwellendes Bommm-bommm, nebst davoneilendem Bi-bi-bi-bi-bi-bi-bi, gefolgt von dissonanten Donnerschlägen, füllt die nächste Gesprächspause.
»Meine Nichte hätte sich für ihren ersten öffentlichen Auftritt seit Jahren etwas Leichteres aussuchen sollen. Bach oder Händel hätten es auch getan. – Sie spielt nämlich ganz ausgezeichnet Piano.«
»Das glaube ich gern«, sagt Karo und sucht den Raum nach einem neuen Thema ab. Einem Thema, das es ihr möglich macht, aufzustehen und damit dem Sessel mit der Sprungfeder zu entkommen, die sich immer schmerzhafter in ihren Po drückt. Über einem Büchersideboard, in dem sich ein mehrbändiges Lexikon in Leder breitmacht, entdeckt sie eine Galerie Fotos.
»Das ist ja unverkennbar Frau Hepp«, ruft Karo und stürzt hin. Die meisten Bilder zeigen die Chefin als Baby, als Teenager, als Frau Mitte zwanzig, Anfang dreißig … Karo staunt. Eine super Figur hatte Gudrun Hepp, fast Modelmaße, üppiges weißblondes Haar. Aber schon immer diesen ironischen Zug um den Mund, mit dem sie sich – absichtlich oder nicht – die Männer vom Leib gehalten haben dürfte.
»Ja, unsere Gudrun. Als sie ein Kind war, wollte sie Konzertpianistin werden. Stellen Sie sich vor, Fräulein Karola, Konzertpianistin! So eine brotlose Kunst! Nachdem Gudrun die Firma übernommen hatte, spielte sie kaum noch. Und nun gleich Griegs Klavierkonzert. Viel zu schwer, finden Sie nicht?«
»Und von wann ist diese Aufnahme?« Karo deutet auf ein Gruppenfoto in Waldlandschaft mit dem schon grauhaarigen, aber deutlich jüngeren Senior. Wie ein Klassenlehrer steht er links hinten im Bild, sehr aufrecht, würdig dreinblickend und alle überragend.
»Ach, das ist erst ein paar Jahre her! Es ist sicher auf der Rückseite notiert. Solche Dinge hat meine Sekretärin immer ordentlich eingetragen. – Haben Sie saubere Hände?«
»Aber ja«, sagt Karo, denkt an Trixis Leckeinheiten und wischt ihre Finger unauffällig am Saum
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