Neben Der Spur
die Entwicklungsabteilung kommen – aus aktuellem Anlass.
Eine derart prompte Chance, eine ihrer Ideen anzubringen, bekommt Karo selten. Sie steckt ihr Phone in die Hosentasche und wischt durch die Tür.
»Warten Sie«, ruft de Beer. Er muss seinen Notizblock suchen.
Die Entwicklungsabteilung ist innenarchitektonisch gesehen eine Enklave des Labors. Statt des in der Firma üblichen goldbraun gemaserten, nach Bienenwachs duftenden Kiefernholzes dominieren kalkweißer Kunststoff und Krankenhausgerüche.
Drei junge Männer, bekleidet mit weißen Kitteln, bis in die Stirn gezogenen Plastikhäubchen und geraffeltem Mundschutz, versinken zwischen Mikroskopen, Phiolen und Reagenzgläsern und scheinen bemüht, die Auseinandersetzung zwischen Geschäftsführer Rolf Westenberger und Laborleiter Willi Weber zu ignorieren. Weber, ein untersetzter Mittvierziger, steht trotzig wie der Stumpf einer gefällten Eiche im Zentrum des Labors, ebenfalls weiß bekittelt, aber ohne Häubchen über der Halbglatze und den Mundschutz kriegerisch um den Hals geschlungen. Umringt wird er von der kompletten Chefetage und dem wie immer bemerkenswert aufrecht in seinem Rollstuhl hockenden Senior.
»Verstehen Sie doch, Herr Weber, es gilt, in den kommenden Wochen einer katastrophalen Umsatzeinbuße zu begegnen. Wir können uns angesichts dieser Wertung nicht einfach tot stellen«, erklärt Geschäftsführer Westenberger und schlägt dem Laborchef aufmunternd auf die Schulter.
Der dreht sich ungeschickt weg. »Hefeextrakt erfüllt zwar die gleiche Funktion wie ein synthetischer Geschmacksverstärker, ist aber ein vollkommen natürliches Produkt«, beharrt er. Sein Gesicht hat eine ähnliche Farbe wie Hepps Beste angenommen.
»Sagen wir eher, es handelt sich um ein Produkt auf Basis der Natur«, schlägt Westenberger vor, »das aber dem heutigen Anspruch an gute Zutaten nicht mehr voll entspricht.«
»Seit Jahrzehnten verwenden wir Hefeextrakt und niemand hat es je beanstandet …«
Gudrun Hepp schüttelt ihre Helmfrisur, ungeahnte Haarzipfel verselbstständigen sich. »Herr Weber, Sie lesen offenbar nicht die Fachliteratur. Der Extrakt ist schon seit einiger Zeit in der Kritik. – Und warum soll ein Verzicht nicht möglich sein? Zu Zeiten der Firmengründung kam man auch ohne aus.«
Der Senior räuspert sich, kräht: »Als ich meinen Freund Werner Kollath 1940 in Rostock traf, sagte er zu mir, lasst unsere Nahrung so natürlich wie möglich, und so …« Er bricht unvermittelt ab, als er Karo entdeckt.
Auch Gudrun Hepp wendet den Blick. Ihre Lider flattern. »Gut, dass Sie beide schon da sind. Hans-Bernward, bitte kümmere dich um eine Stellungnahme gegenüber der Redaktion gesund genießen. Frau Rosenkranz, formulieren Sie einen Newsletter, den wir an Groß- und Einzelhandel verschicken können.«
»Noch heute?«, fragt de Beer.
Statt einer Antwort entriegelt die Chefin den Rollstuhl des Seniors mit einem vernehmlichen Klicken. »Sie alle werden verstehen, dass mein Onkel nun etwas Ruhe braucht«, sagt sie. »Wir ziehen uns zurück.«
Der Senior winkt mit nach außen gedrehter Handfläche wie die Monarchen in alten Schwarz-Weiß-Filmen und lässt sich unter Mithilfe zweier Laboranten durch die Flügeltür und eine Rampe hinunter aus dem Verwaltungsgebäude bugsieren.
Newsletter? Karo fühlt sich hilflos wie selten, scheut nicht mal einen suchenden Blick zu de Beer. »Was schreiben wir denn? Ich meine: inhaltlich.«
De Beer seinerseits fixiert Geschäftsführer Westenberger, der seine Arme verschränkt hält und sinniert. »Nun, ehmmm …«
Laborleiter Weber spreizt sich: »Schreiben Sie: Die Kritik Ihrer Redaktion am Einsatz von Hefeextrakt ist hanebüchen und gegenstandslos.«
Westenberger reibt sich die Schläfe. »Nein, schreiben Sie: Wir nehmen Ihre Kritik ernst und bemühen uns um Abhilfe.«
»Schreiben Sie: Hefeextrakt ist eine unverzichtbare Zutat«, diktiert Weber.
»Nein, besser so: Wir überprüfen derzeit die Verzichtbarkeit von Hefeextrakt in all unseren Produkten …«
»Es gibt keine geschmacklich überzeugende Alternative«, ruft Weber dazwischen und haut auf den Arbeitstresen, dass die Reagenzgläser klirren.
Westenberger atmet hörbar durch: »Besser so: Wir bemühen uns – mit Blick auch auf unsere kritischen Kunden – intensiv um geschmacklich überzeugende Alternativen.«
Karo notiert sich sicherheitshalber beide Varianten. Und besinnt sich auf die Idee, die sie in de Beers Büro überfallen hat.
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