Neben Der Spur
Müdigkeit abzuschütteln, sich zu konzentrieren. ›Mein Name ist Valentin Hepp‹, wird er sagen, ›ich bin Unternehmersohn und angehender Student der Theologie, ich wohne in Mainz, Mainz am Rhein. Ich bin entführt worden, ich weiß nicht, von wem, weiß auch nicht, warum … Ich habe Mist gebaut, aber ich wollte niemanden verletzen … Ich vermisse meinen Freund Rolf. Rolf Westenberger. Er ist auch entführt worden. Aber mit mir in dem Container war er nicht …‹
Das Auto fährt in eine Stadt ein, eine Stadt mit pastellfarbenen Plattenbauten. Und hält vor einer klassizistischen Villa mit Gitterstäben vor den maroden Stuckfenstern; über die bröckelnde Sandsteintreppe führt eine Rampe aus rostigem Eisen. Wie ein Krankenhaus sieht es nicht aus, eher wie …
»Wo sind wir?«, will er fragen, doch die Zunge klebt noch immer zwischen seinen Zähnen.
Die Pfleger scheren sich nicht um ihn, lassen ihn allein im Wagen sitzen, verschwinden hinter der Tür über der Sandsteintreppe.
Valentin will aussteigen, seinen Gurt lösen. Mit zitternden Händen greift er nach der Schnalle, sie löst sich nicht. Er fingert nach dem Türöffner. Der gibt nach. Schnappt zurück. Die Tür bleibt zu.
Da kommen die Männer wieder, schleppen eine junge Frau mit sich, übergewichtig, mit rundem Gesicht und schmalen Augen. Downsyndrom! Sie lächelt entrückt, als sie neben Valentin gesetzt wird. »Marga«, sagt sie und streicht über ihre Stoppelfrisur.
Noch so eine Marga wird herbeigeführt, blond, ein wenig älter, ein wenig dicker, dafür lebhafter. Sie lacht kehlig und plappert in einem fort Wörter, die Valentin nicht versteht. Zuletzt schieben die Pfleger einen Mann im Rollstuhl heran. Der scheint mit offenen Augen zu schlafen, sein Kopf baumelt von den Schultern, er starrt ins Leere. Die Pfleger hieven den schlappen Mann auf den vorderen Sitz, stützen seinen Kopf mit einer Nackenmanschette.
Alles Behinderte! Valentin wird zusammen mit lauter Behinderten herumkutschiert! Man hält ihn für verrückt, weil er nicht gehen, nicht sprechen kann. Und er ist im Ausland. In was für einem Ausland?
Eine Frau im weißen Kittel tritt aus dem Haus. Der Fahrer des Autos muss irgendwelche Papiere unterschreiben. Die Frau kommt näher, ein zusammengekniffenes Augenpaar wirft einen Blick durch die Scheibe, überfliegt das Wageninnere, sieht in Valentins Gesicht, direkt in sein Gesicht und sofort wieder weg. Valentin nimmt alle Kraft zusammen, um seine Zunge, seine Lippen zu bewegen: »Hil-fe! Hil-fe!«
Doch das Augenpaar verschwindet, der Kittel entfernt sich. Jemand sagt was. Gelächter. Der Wagen fährt an, fährt weiter.
Alles wird sich aufklären. Alles wird gut. Valentin kann ja Englisch, Englisch versteht jeder. My name is Valentin Hepp , wird er sagen . I live in Mainz, Germany. Someone kidnapped me … I have failed, but I didn’t want to hurt anyone … I am not mentally disabled, please believe me, I am filled up with drugs, but I am not mentally disabled …
Das Fräulein Karola will es immer ganz genau wissen. Wie es damals war, als man dich eingesperrt hat in ›die Anstalt‹, die ›Hoppla‹, wie man sie oft noch heute nennt, als wäre sie ein überaus lustiger Ort. Und wie es dir dort erging. Was sie mit dir gemacht haben. Ohne jedes wohlige Schaudern in der Stimme fragt sie, sie will sich gewiss nicht an den Einzelheiten weiden, wie manche es tun, die dich aushorchen wollen – dich aushorchen wollen.
Das Fräulein Karola fragt aus reiner Anteilnahme. Sie ist ein gutes Kind, da kannst du sicher sein, Hermann. Aber sie muss nicht alles wissen, nicht wahr?
Wieso man dich als schizophren bezeichnet hat, fragt sie auch. Weil das doch eine schlimme Krankheit wäre. Ha, bei den Nazis gab’s nur drei Möglichkeiten, sage ich ihr dann. Entweder man war für sie, dann hatte man in der Partei einzutreten und blieb vor ihren Nachforschungen verschont. Bis auf Weiteres. Oder man war gegen sie, dann war man ein Volksfeind, wurde verhaftet, kam ins KZ. Oder man war weder das eine noch das andere. Dann war man schizophren. Und kam in die Hoppla. So einfach sei das gewesen, sage ich. Und lache dabei. Das Fräulein ist höflich, schmunzelt. Sie glaubt mir nicht.
Weißt du noch, Hermann, dein erster Anfall? Der passierte wenige Tage vor deinem neunten Geburtstag. Es war ein Montag, schwül und wie angespannt von einem dröhnenden Gewitter, das aber ausblieb … So hat die Mutter es aufgeschrieben, in einem ihrer vielen
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